AMG etablierte sich in den 1970er-Jahren als Tuner, der sich um Autos von Mercedes-Benz kümmerte. Eine wichtige Rolle dabei spielte die „Rote Sau“. Der von AMG getunte Mercedes-Benz 300 SEL 6.3 fuhr bei den 24 Stunden von Le Mans auf den zweiten Platz. Das wirkte auf die, die zeitgleich aufwuchsen, teilweise befremdlich. Denn ein Mercedes galt Mitte der 1970er-Jahre nicht als sportlich. Dabei gehörte der Motorsport eigentlich zur DNA der Daimler-Benz AG und ihrer Vorgänger. Doch nach der Katastrophe von Le Mans verzichtete das Unternehmen auf ein Engagement im Spitzensport. Wobei die Versuchsabteilung weiter mit seriennahen Fahrzeugen Fernfahrten (heute sagen wir Rallyes dazu) und Tourenwagen-Rennen bestritt.
Daimler-Benz baute eine Limousine, die niemand aus Stuttgart erwartete!
Es war Fahrversuchsleiter Erich Waxenberger, der die Idee hatte, den V8 aus dem Mercedes-Benz 600 in die Baureihe W 109 zu verpflanzen. 1967 stellte Daimler-Banz die Oberklasse-Limousine mit dem M 100 getauften Motor der Öffentlichkeit vor. Ab März 1968 lieferte der Autobauer den 250 starken Mercedes-Benz 300 SEL 6.3 an Kunden aus. Zu ihnen zählten Prominente wie Peter Alexander, Hildegard Knef oder Udo Jürgens und andere Profiteure des Wirtschaftswunders. Die Versuchsabteilung baute zwei 6.3 für den Einsatz auf der Rennstrecke auf. Doch bei Tests zeigte sich, die 1,8 Tonnen schwere Limousine „fraß“ Reifen und Bremsen.
Daimler-Benz gab 1969 eine Nennung für die 24 Stunden von Spa-Francorchamps ab. Das Training lief mit den Startplätzen zwei (Hans Herrmann und Jacky Ickx) und vier (Rauno Aaltonen und Dieter Glemser) gut. Trotzdem zog der Autobauer die Rennwagen vor dem Start zurück. Die Angst, dass Reifen und Bremsen der Hast nicht gewachsen seien, war zu groß. Zwei Jahre später hatte Tuner AMG weniger Bedenken. AMG trat mit seinem Mercedes-Benz 300 SEL 6.8 in Spa-Francorchamps an. Die damals noch 14 Kilometer lange Strecke passte mit ihrem hohen Vollgasanteil gut zur schnellen Oberklasse-Limousine.
Bei AMG brachte den M 100 auf 6,8 Liter Hubraum!
Die AMG-Gründer Hans Werner Aufrecht und Erhard Melcher nutzten bei ihrem Rennwagen die Möglichkeiten des damaligen Gruppe 2-Reglements konsequent aus. Die AMG-Version des M 100 verfügte über satte 6.834 Kubikzentimeter Hubraum. Statt – wie bei den Serienmodellen – mit einer Automatik koppelte AMG das Triebwerk mit einem ZF-Fünfgang-Schaltgetriebe und einer Rennkupplung. Die Karosserie des Rennwagens stammte von einem Unfallwagen. Das war deutlich günstiger als einen mehr als 40.000 DM teuren Neuwagen zum Rennwagen umzubauen.
Trotz des hohen Preis setzte Daimler-Benz bis 1972 übrigens 6.526 Exemplare des Mercedes-Benz 300 SEL 6.3 ab. AMG lackierte den Rennwagen knallig rot – was für den Spitznamen „Rote Sau“ sorgte. Hans Heyer und Clemens Schickentanz trieben das mehr als 400 PS starke Auto bei den 24 Stunden von Spa-Francorchamps 1971 auf Platz zwei. Das Ergebnis war eine gute Werbung für AMG. Der Tuner bot nun seinen Kunden zwei Versionen mit 290 PS beziehungsweise 325 PS Leistung an. Zudem schickte AMG die Rote Sau weiter zu Rennen.
Die Rote Sau fuhr nicht nur in Spa-Francorchamps!
Noch im gleichen Jahr saßen Heyer und Schickentanz auch beim 12 Stunden-Rennen in Paul Ricard im Mercedes. Mit einem zehnten Platz war das Ergebnis nicht ganz so stark wie zuvor in Spa-Francorchamps. Dazu bestritt Hans Heyer mit dem 300 SEL noch ein Tourenwagen-Rennen in Hockenheim für AMG. Im folgenden Jahr trat der AMG auch bei einem 4-Stunden-Rennen in Le Mans an. Auch für das 24 Stunden-Rennen im Herzen Frankreichs gab AMG eine Nennung ab. Doch einen Mercedes sollte es in Le Mans bei den 24 Stunden noch nicht wieder geben. AMG verzichtete – wohl auch auf Wunsch des Werks – auf den Start.
Beim 1.000-Kilometer-Rennen am Nürburgring verpasste der Mercedes-Benz 300 SEL 6.8 von AMG 1972 die Qualifikation. Im Feld der Sportwagen und GT hing die Messlatte für den Mercedes wohl doch zu hoch. Das 24 Stunden-Rennen an gleicher Stelle nahm die „Rote Sau“ mit der Startnummer 1 auf. Doch ein defektes Differential verhinderte, dass die Piloten Hans Heyer und Thomas Betzler die Zielflagge sahen. Den Schlusspunkt der Motorsport-Karriere des SEL setzte der Start bei der Tour de France Automobile. Parallel dazu rüstete AMG einen McLaren M8F mit dem V8 aus und erkundete – ebenfalls mit Hans Heyer im Cockpit – in der Interserie neues Terrain.
Das Original gilt als verschollen!
Doch dieses Projekt verfolgte AMG nicht weiter. Zudem zwang eine Regeländerung den AMG in den Ruhestand. Denn die FISA begrenzte den Hubraum im Tourenwagensport auf maximal fünf Liter. Das zog dem Mercedes-Benz 300 SEL 6.8 den Boden unter den Rädern weg. AMG verkaufte den Rennwagen – vermutlich – an Aérospatiale-Matra. Der französische Luftfahrtkonzern zog mit dem Rennwagen Reifen für den Airbus A300, um sie zu testen. Schon in den 1980er-Jahren galt die „rote Sau“ verschollen. Alle Fahrzeuge, die heute auf Messen stehen und wie die Rote Sau aussehen, sind Nachbauten. Sie stammen meisten von Arthur Bechtel Classic Motors aus Böblingen.