Ende der 1970er-Jahre war Sportlichkeit bei Mercedes-Benz ein Attribut aus der Vergangenheit. Denn die Motorsport-Erfolge der Stuttgarter lagen – gefühlt ewig – lange zurück. Doch den Verantwortlichen war klar, dass sie in Zukunft auch jüngere Kunden ansprechen müssen, um zu wachsen. Zudem gab es in den USA erste Überlegungen den Herstellern einen Flottenverbrauch gesetzlich vorzuschreiben. Als Lösung entstand mit dem 190er der Baureihe W201 der Baby-Benz. Geschickt, weil es zusätzliche Aufmerksamkeit generierte, bot Mercedes-Benz in seiner neuen Baureihe mit dem Mercedes-Benz 190 E 2.3-16 von Anfang an ein sportliches Spitzenmodell an.
Der 190er brach mit vielen Traditionen!
Doch das war nicht die einzige Veränderung, die die neue Modellreihe kennzeichnete. Damals trugen die Autos von Mercedes-Benz ihren Hubraum als Modellbezeichnung. Ein Auto mit der Modellbezeichnung „200“ hatte zwei Liter Hubraum. „230“, „300“ oder „500“ standen für 2,3 beziehungsweise drei oder fünf Liter Hubraum. Auf den Zahlencode folgte dann noch ein „E“ als Kennzeichen für einen Einspritzmotor oder ein „D“ als Kennzeichen eines Dieselmotors. In der Oberklasse fügte Mercedes zudem – wie bei „280 SE“ – noch ein „S“ in die Modellbezeichnung ein. Nur bei den Roadstern und Coupés der Baureihe 107 wich Mercedes-Benz geringfügig von dieser Systematik ab. Diese Autos trugen hinter ihrem Hubraum nur schlicht ein „SL“ oder „SLC“.
Der neue 190er brach mit diesen System. Denn anders als in seinen damaligen Modellreihen war ein W201 immer ein 190er. Die Größe des Motors wurde nur bei den größeren Motoren zusätzlich auf der rechten Seite des Kofferraumdeckels vermerkt. Dort stand dann schlicht „2.3“ als Kennzeichen dafür, dass unter der Motorhaube ein 2,3 Liter großes Triebwerk arbeitete. Im Fall des Sportmodells ergänzte zusätzlich ein „-16“ die Modellbezeichnung, um auf den Zylinderkopf mit vier Ventilen pro Zylinder hinzuweisen. Dieser stammte vom britischen Spezialisten Cosworth. Das war für die Daimler-Benz AG, die sich als Erfinder des Automobils versteht, ein mutiger Schritt. Denn erstmals bezog Mercedes ein wesentliches Teil eines Fahrzeugs sichtbar von einem Zulieferer.
Spötter fragten, können die in Stuttgart keinen Zylinderkopf konstruieren?
Damit nicht genug! Denn der Mercedes-Benz 190 E 2.3-16 bekam serienmäßig ein Spoilerkleid, das auch von einem der damals zahlreichen Tuner hätte stammen können. Vorne gab es einen – für Mercedes-Verhältnisse – schaufelartigen Frontspoiler. An den Seiten trug der Mercedes-Benz 190 E 2.3-16 Kotflügelverbreiterungen und zusätzliche Kunststoffleisten. Auf dem Kofferraumdeckel saß zudem tatsächlich ein Heckspoiler. Kurzum, dieses Auto brach mit allem, was zuvor in Stuttgart oder den vornehmen Werksniederlassungen des Autobauers üblich war. Zwischen den „300D“, den erfolgreiche Handwerksmeister orderten, und den „380SE“ der Mittelständler war der Mercedes-Benz 190 E 2.3-16 so fast schon eine Provokation.
Doch mit seinen Langstrecken-Weltrekorden für Serienfahrzeuge unterstrich der Mercedes-Benz 190 E 2.3-16 bereits kurz vor der Markteinführung seine sportlichen Ambitionen. Vom 11. bis zum 21. August legte der Baby-Benz im italienischen Nardò die Strecke von 50.000 Kilometern in nur 201 Stunden, 39 Minuten und 43 Sekunden zurück. Das entspricht einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 247,9 Kilometern pro Stunde. Auch über 25.000 Kilometer und 25.000 Meilen setzte der Mercedes neue Bestmarken. Dazu kamen noch neun weitere Klassenrekorde. Das Testgelände in Nardò verfügt über eine 12,6 Kilometer lange und kreisrunde Hochgeschwindigkeitsstrecke.
Der Mercedes-Benz 190 E 2.3-16 war mit 250 km/h unterwegs – fast neun Tage lang!
Bei Außentemperaturen von mehr als 40 Grad Celsius war das Fahren in Nardò sicherlich nicht nur ein Vergnügen. Zum Rekordversuch traten drei Mercedes-Benz 190 E 2.3-16 an, die weitgehend der geplanten Serienausführung entsprachen. Daimler-Benz passte nur die Einspritzanlage und die Zündung für den Betrieb unter Dauervollgas an. Zudem wurde auf einen Lüfter hinter dem Kühler verzichtet. Denn bei den hohen Fahrgeschwindigkeiten reicht der normale Fahrtwind für das Durchströmen des Kühlers völlig aus. Um den Motor auch in der Nacht, wenn die Außentemperaturen deutlich absinken, auf Betriebstemperatur zu halten, verfügten die Rekordfahrzeuge über eine Kühlerjalousie. Zudem schützte ein austauschbares Insektengitter den Kühler vor dem Verstopfen.
Tagsüber deckten die Mechaniker auch die Scheinwerfer mit abnehmbaren Kunststoff-Kappen ab, um Verunreinigungen durch Insekten oder Beschädigungen zu vermeiden. Das sparte Zeit beim Boxenstopp. Denn das Entfernen der Abdeckungen zweimal täglich nahm weniger Zeit in Anspruch als das regelmäßige Säubern der Scheinwerfer. Nebenbei wirkten sich die Optimierungen am für die Rekordfahrt 1,5 Zentimeter abgesenkten und mit einer Niveauregulierung bestückten Mercedes-Benz 190 E 2.3-16 positiv auf die Aerodynamik aus. So reichten die serienmäßigen 185 PS (136 kW) in Nardò in Verbindung mit Spezialreifen und einer geänderten Hinterachs-Übersetzung (2,65:1 statt wie in der Serie 3,07:1) für Spitzengeschwindigkeiten von mehr als 250 Kilometer pro Stunde.
Der Clou gelang – nach den Weltrekorden war der Mercedes-Benz 190 E 2.3-16 in aller Munde!
Wie der Motor entsprachen auch die Kupplung und das manuelle Fünfgang-Getriebe der geplanten Serienausführung. Nur auf die Servolenkung, die später zur Serienausstattung gehören sollte, mussten die Testfahrer verzichten. Eine Entscheidung, die ebenfalls der Leistung half. Denn eine Servopumpe zweigt dem Motor einige PS an Leistung ab. Der Verzicht auf die Servolenkung war allerdings zu verschmerzen, weil das Fahren auf der überhöhten Kreisbahn nahezu seitenkraftfrei – also praktisch immer „geradeaus“ – vonstatten geht. Die Vorgabe für die Fahrer enthielt eine Motordrehzahl von 6000 Umdrehungen pro Minute. Womit der 2,3 große Vierzylinder rund 22 Liter Kraftstoff auf 100 Kilometer verbrauchte.
Die Rekordfahrzeuge verfügten, dem Reglement der FIA entsprechend, über einen 160 Liter fassenden Tank. So konnten die Piloten zwischen den kurzen Stopps jeweils rund 600 Kilometer fahren. Dann mussten die Mechaniker an der Box Kraftstoff nachfüllen. Zweimal pro Auto, nach jeweils gut 17.000 Kilometern, kam zum Tanken und Fahrerwechsel noch ein kleiner Service hinzu. Alle Ersatzteile – mit Ausnahme der Reifen und der Betriebsstoffe – dafür mussten die Fahrzeuge übrigens von Beginn an Bord mitführen. Innerhalb von fünf Minuten wechselten die Mechaniker Motoröl, Ölfilter und Zündkerzen. Dazu stellten sie das Ventilspiel ein. Schon nach etwa 8.500 Kilometern wechselten die Boxenmannschaft die Hinterreifen. Beim „großen“ Service kamen die Vorderreifen dazu.
Dann war das Ziel erreicht – der Mercedes-Benz 190 E 2.3-16 holte den Weltrekord über 50.000 Kilometer nach Stuttgart!
Dieser Takt bestimmte fast neun Tage den Rhythmus der drei Mercedes-Benz 190 E 2.3-16, der Fahrer und der Mechaniker. Für die einzige Unterbrechung sorgte, dass an einem der Fahrzeuge der Verteilerfinger brach. Ausgerechnet diesen führten die Fahrzeuge nicht mit. Deshalb kam es zu einem rund drei Stunden langen Stopp, um mit viel Improvisation den Verteilerfinger zu reparieren. Am Ende legte auch dieser 190er die 50.000 Kilometer-Distanz zurück. Mercedes-Benz stellte mit den Rekordfahrten eindrucksvoll die Zuverlässigkeit seines damals neuen Vierventil-Motors unter Beweis. Heute wissen wir, dass die Rekordfahrten nur der Auftakt waren. Denn schon bald sorgten die Baby-Benz in ganz Europa dafür, dass Mercedes-Benz wieder als sportlich galt.
Chris
22. August 2024Obwohl zur Zeit der Rekordfahrt kaum auf der Welt, konnte auch ich mich der Faszination W201 nicht entziehen.
Ohne den genauen Rekordablauf zu kennen, halte ich die realen knapp 250 Km/h für die Serienleistung als zu optimistisch. Ohne KAT 230 Km/h, so zumindest offiziell.
Vielleicht waren die minimalen Eingriffe doch größerer Natur.
Chris W126
Tom Schwede
23. August 2024Wobei die mit dem Lüfter und der Servolenkung schon ganz geschickt zwei Leistungsfresser ausgebaut haben. Das hilft der Leistung, die tatsächlich am Rad ankommt, sicher.