Lancia Y10 – der letzte echte Lancia

von Tom Schwede am 05. Jan 2025

Lancia glänzte in seiner langen Geschichte mehrfach mit Autos, die bis heute unvergesslich sind. Doch das letzte Auto, das der Bürde seiner Ahnen gerecht wurde, war der Lancia Y10 von 1985.

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Lancia verstand den Y10 von Anfang an Luxus-Kleinwagen. Deshalb kamen die Verantwortlichen von FIAT-Deutschland 1992 ein Modell mit einem Autotelefon zum Lancia Y10 an die Autobahn zu stellen. Im Rückblick wirkt das etwas befremdlich. – Foto: Stellantis / Lancia

Zugegeben, ein Kleinwagen wie der Lancia Y10 war 1985 nicht unbedingt das, was Auto-Fans von der Marke Lancia erwarteten. Denn Lancia glänzte damals vor allem im Motorsport. Frisch war die Erinnerung an den Lancia Stratos, der in den 1970er-Jahren die Konkurrenz in der Rallye-Szene dominierte. Auch mit dem Lancia 037 und dem Lancia Delta S4 kämpfte die seit 1969 zu FIAT gehörende Marke in der Rallye-Weltmeisterschaft um Siege und Titel. Zwischendurch feierte 1980 Hans Heyer mit dem Lancia Beta Monte Carlo den DRM-Titel. Dazu waren die Sportwagen Lancia LC1 und Lancia LC2 in der Langstrecken-WM zumindest an guten Tagen für Siege gut.

Und nun präsentierte Lancia einen Kleinwagen!

Wobei zur Ehrenrettung zu notieren ist, dass der auf dem Genfer Automobilsalon 1985 präsentierte Lancia Y10 mit einigen Konventionen seiner Fahrzeugklasse brach. Denn der Y10 war etwas, was die Autoindustrie eigentlich erst viele Jahre später erfinden sollte. Der kleine Lancia war ein Lifestyle-Kleinwagen. Offenbar waren sich die Verantwortlichen dem Widerspruch, für den ein Kleinwagen mit dem Namen Lancia stand, bewusst. Denn auf dem Heimatmarkt in Italien vermarkteten sie den Y10 als Autobianchi. Diese Marke ging auf eine Zusammenarbeit mit dem Fahrradhersteller Bianchi und Pirelli zurück, gehörte seit 1968 aber ebenfalls vollständig zu FIAT.

Vincenzo Lancia

Der Gründer der Marke Lancia: Vincenzo Lancia (Foto: Stellantis)

Schließlich stand Lancia besonders in Italien traditionell für Innovation, Eleganz und Motorsportleidenschaft. Gegründet 1906 von Vincenzo Lancia, prägte die Marke immer wieder mit bahnbrechenden technischen Entwicklungen die Geschichte des Automobils. Im Lancia Lambda gab es bereits 1922 eine selbsttragende Karosserie. Der aus Leichtmetall gefertigte V6-Motor im Lancia Aurelia war 1950 revolutionär. Mit der von Vittorio Jano konstruierten Aurelia begann die Erfolgsserie der Marke Lancia im Rallye-Sport. Dazu leistete sich Lancia ein Formel-1-Team, dessen Fahrzeuge und Inventar nach dem tödlichen Unfall von Alberto Ascari jedoch an Ferrari gingen.

Lancia gehörte zeitweise einem Zementhersteller!

Denn trotz der Innovationskraft seiner Ingenieure war Lancia Anfang der 1950er-Jahre finanziell nicht auf Rosen gebettet. Die weitverzweigte Modellpalette ließ sich im veralteten Werk der Firma nicht kostendeckend fertigen. Für eine Modernisierung fehlte das Geld. Und das Geld, das da war, floss unter anderem in das 1953 eröffnete Lancia-Hochhaus. Der 70 Meter hohe Prestigebau überspannte eine öffentliche Straße und verband dabei die zwei getrennten Werksteile. Firmenchef Gianni Lancia, der das Unternehmen seit dem frühen Tod seines Vaters 1937 führte, verkaufte daher 1955/56 seine Anteile an der Firma dem Zementhersteller Carlo Pesenti.

Der Eigentümer der Italcementi-Gruppe brachte neues Geld ins Unternehmen. Unter seiner Führung lag der Fokus auf der Konsolidierung des Unternehmens. Der teure Motorsport trat vorübergehend in den Hintergrund. Dafür definierte die Marke mit dem von Professor Antonio Fessia konstruierten Lancia Flaminia die Oberklasse neu. Dazu initiierte Carlo Pesenti die Entwicklung der kleineren Modelle Fulvia und Flavia. Für sie entstand 1960 mit dem Lancia-Werk in Chivasso sogar eine neue Fabrik. Doch größere Erfolge verhinderten, dass die Modelle von Lancia sündhaft teuer waren. „Die Zeit“ sah in der Wahl eines Lancias den Ausdruck eines „großbürgerlichen Geltungsdranges“.

1969 übernahm FIAT die Marke Lancia!

Carlo Pesenti erkannte, dass Lancia ein Fass ohne Boden war, und suchte einen Käufer. Daimler-Benz soll Interesse an der Marke bekundet haben. Mit BMW – vor knapp einem Jahrzehnt selbst noch ein Übernahmekandidat – gab es konkrete Übernahmegespräche. Doch Pesenti hatte Mitte der 1960er-Jahre etwas mehr als ein Drittel der Aktien von Lancia dem Vatikan verkauft. Die kirchlichen Vermögensverwalter waren nicht bereit, ihre Beteiligung abzuschreiben. BMW bot in ihren Augen nicht genug. Die Gespräche scheiterten, und in der Zwischenzeit häufte Lancia weiter Schulden an. So kam es zu einer italienischen Lösung: Giovanni Agnelli übernahm mit FIAT 1969 Lancia.

Schnittzeichung des Lancia Y10

FIAT war beim Bau des Lancia Y10 eine wirtschaftliche Fertigung wichtig. Deshalb debütierten mit dem kleinen Lancia auch die von Robotern montierten neuen FIAT-Motoren. (Foto: Stellantis / Lancia)

Als erste Amtshandlung reduzierte FIAT die Preise aller Lancia-Modelle, um den Absatz zu beflügeln. Es folgte für Lancia eine Ära voller Kontraste. Dem ikonischen Design, den technischen Innovationen und dem Comeback im Motorsport stand die schrittweise Eingliederung in den FIAT-Konzern gegenüber. Mit dem Lancia Beta kombinierte die Marke in der Mittelklasse fortschrittliche Technik und gehobenen Komfort. Der keilförmige Lancia Stratos sorgte für Aufsehen und neue Motorsporterfolge. Dreimal gewann Lancia – beflügelt vom Ferrari-V6-Motor – mit dem von Bertone gestalteten Sportwagen die Rallye-WM.

Und nun stand da der Lancia Y10!

Um von der mit den Sporterfolgen generierten Aufmerksamkeit zu profitieren, schickte FIAT seine neue Tochter ab 1978 mit dem Lancia Delta in die Kompaktklasse. Einen so kleinen Lancia gab es zuvor nie. Traditionell bildete die Mittelklasse das untere Ende der Modellfamilie. Trotzdem war der Y10 eine Überraschung. Denn eigentlich bediente FIAT mit dem Panda und dem Uno diese Klasse selbst. Daneben gab es den Autobianchi A112, der seit 1977 außerhalb Italiens bereits als Lancia auftrat. Doch da war der A112 schon acht Jahre auf dem Markt. Deshalb setzte sich der Name Lancia bei den Fans des Kleinwagens praktisch nicht durch.

Im Lancia Y10 sahen die Verantwortlichen den Nachfolger des A112. Wobei sie mit dem Neuen mehr als nur einen kompakten Stadtwagen vorstellten. Denn der Y10 verkörperte eine neue Philosophie im Kleinwagensegment. Das fängt mit der harmonischen Karosserie an. Kaum zu glauben, dass sich der Y10 unter dem Blech die Technik mit dem FIAT Panda teilt. Da dieser mit seinem glattflächigen Design schon das Thema der „tollen Kiste“ besetzte, schufen die Designer des hauseigenen „Centro Stile“ für den Y10 einen fast schon futuristisch anmutenden Kontrapunkt. Damit brach der neue Kleinwagen mit der noch beim Delta verfolgten kantigen Linienführung.

Auch im Innenraum glänzte der Y10!

Ein kreatives Gestaltungsmerkmal war die in der Regel mattschwarz lackierte Heckklappe. Sie betonte das aerodynamisch günstige Kamm-Heck. Ebenfalls bemerkenswert war das für den Y10 verfügbare hochwertige Interieur. Denn wer wollte, konnte seinen kleinen Lancia mit hochwertiger und edler Innenausstattung ordern. Dazu gehörten in den gehobeneren Versionen beispielsweise mit Alcantara überzogene Sitze. Das setzte Maßstäbe und machte den Lancia Y10 fast schon zu einem „kleinen Luxuswagen“.

Lancia Y10 Turbo

Mit dem Lancia Y10 Turbo verband der Kleinwagen Fahrspaß mit Stil – das gab es Mitte der 1980er-Jahre so noch nicht! (Foto: Stellantis / Lancia)

Beim Antrieb stand gleichzeitig jedoch Effizienz im Mittelpunkt. Denn unter der Motorhaube debütierte der später auch im Panda angebotene FIRE-Motor. Mit dessen 45 PS Leistung war der Lancia Y10 zwar „nur“ maximal 145 Kilometer pro Stunde schnell, verbrauchte jedoch auch im Stadtverkehr nur rund sieben Liter pro 100 Kilometer. Und wer wollte, der konnte den Lancia Y10 von Anfang an auch mit einem 85 PS starken Turbomotor ordern. Damit flog ein gut eingestellter Y10 bei Bedarf auch schon mal mit 180 Kilometern pro Stunde über die Autobahn. Das entsprach dann mehr dem Geist der Marke Lancia und kombinierte Fahrspaß mit Stil.

Der Lancia Y10 war seiner Zeit voraus und ist bis heute – bei Lancia – unerreicht!

Bis 1995 blieb der Lancia beziehungsweise Autobianchi Y10 auf dem Markt. Dann trat der Lancia Y an seine Stelle. Doch bis heute kam keiner der Nachfolger an den ersten Kleinwagen von Lancia heran. Der Lancia Y10 war seiner Zeit voraus. Er verband Individualität mit Alltagstauglichkeit und bewies, dass ein Kleinwagen nicht auf Charme und Raffinesse verzichten muss – ein Konzept, das mittlerweile viele imitieren.