VW EA 128 – der große Volkswagen von 1963

von Tom Schwede am 20.01.2022

Wer den Prototyp VW EA 128 heute in der Sammlung der Stiftung AutoMuseum Volkswagen trifft, der sieht ein Auto, das auf dem Stand der frühen 1960er Jahre serienreif wirkt. Doch das Fahrzeug der Oberklasse fand nie den Weg auf unsere Straßen. Wir fragen uns, was damals gegen eine Realisierung sprach.

Titelbild zum Artikel:VW EA 128 – der große Volkswagen von 1963

Anfang der 1960er-Jahre arbeiteten Designer und Entwickler im Wolfsburg an einem großen Volkswagen. Doch zu einer Serienproduktion kam es nicht. Wir suchen die Gründe für die Einstellung des Projekts EA 128 – Foto: Stiftung AutoMuseum Volkswagen

Anfang der 1960er-Jahre funktionierte der Automarkt in Deutschland völlig anders als heute. Die einheimischen Autobauer dominierten den Markt. Autobauer aus dem Ausland spielten praktisch keine Rolle, da Zollschranken den Markt abschotteten. Marktführer war Volkswagen mit dem Typ 1, den wir als Käfer kennen. Daneben gab es in Wolfsburg „nur“ den Transporter, der eigentlich aus Hannover kam. Erst 1961 ergänzte Volkswagen sein Programm mit dem als VW 1500 und VW 1600 verkauften Typ 3 in der Mittelklasse. Mitte des Jahrzehnts entstand mit dem VW EA 128 ein Prototyp, wie ein Volkswagen für die Oberklasse aussehen könnte. Doch zu dessen Realisierung kam es nicht. Denn inzwischen setzte die Konkurrenz Volkswagen zunehmend mit neuen Autos unter Druck. Die Herausforderer waren nicht nur komfortabler, sie ließen sich auch schneller und einfacher bauen als der aus den 1930er-Jahren stammende Käfer.

Bei gleichen Preisen verdiente Volkswagen weniger am Auto als die Wettbewerber. Um Geld zu verdienen, benötigte Volkswagen also große Stückzahlen. So lange der Käfer von Absatzrekord zu Absatzrekord fuhr war die Welt am Mittellandkanal in Ordnung. Doch langsam brach eine Zeitenwende an. Ford verabschiedete sich mit dem Taunus 17 M von den Designvorgaben der amerikanischen Mutter. Das beflügelte die Marke, die in Deutschland bald einen Marktanteil von 18 Prozent für sich verbuchen konnte. 1962 wagte Opel mit dem Kadett A den offenen Angriff auf den Käfer. Zudem bot die damalige GM-Tochter eine Modellpalette mit Vier, Sechs- und Achtzylinder-Motoren an. Selbst BMW, gerade knapp an der Pleite vorbeigesaust, verfügte über ein breiteres Angebot. Doch ausgerechnet dem Marktführer fehlte ein Angebot für Kunden, die sich mehr Auto wünschten.

Auch VW wollte mehr!

Denn bei den VW-Händlern gab es damals neben dem Käfer nur Transporter sowie den sportlichen Karmann Ghia. Damit verloren die Händler immer wieder automobile Aufsteiger, die dem Käfer entwuchsen, an die Konkurrenz. VW reagierte und stellte 1961 auf der IAA im Frankfurt den Typ 3 vor. Mit dem im Verkauf als VW 1500 und 1600 bezeichneten Auto stieg die Marke Volkswagen erstmals in die Mittelklasse auf. Dabei setzte der Autobauer aus Wolfsburg auf bewährte Technik. Wie beim Käfer übernahm ein luftgekühlter Boxermotor den Antrieb des neuen Volkswagens. Und wie der Typ 1 steht auch der Typ 3 auf einem Zentralrohrrahmen mit Bodenplatte.

Innenraum des VW EA 128

Im Innenraum bot EA 128 viel Platz. Zudem bot er als erster Volkswagen vier Türen. Darauf mussten die Kunden noch bis zum VW 411 warten, der 1968 erstmals bei den Händlern stand. (Foto: Stiftung AutoMuseum Volkswagen)

Darüber stülpte Volkswagen beim ersten Mittelklasse VW eine zeitgenössische Pontonkarosserie. Das sorgte für gute Platzverhältnisse im Auto. Doch wie schon beim Käfer gab es auch im Typ 3 nur zwei Türen. Da war die Konkurrenz, die auf selbsttragende Karosserien und vier Türen setzte, weiter. Zum Glück half der gute Ruf des Käfers, mit dem Neuen Käfer-Aufsteiger zu binden. Doch für Unternehmer, die bei VW reichlich Transporter bestellten, war der Typ 3 kein passendes Angebot. Sie kauften ihre Autos weiter bei BMW oder Mercedes-Benz, die Dienstwagen für ihre Prokuristen bestellten sie bei Ford, Opel oder der Auto Union.

Um Geld zu verdienen, benötigt VW lange mehr Käfer!

Die bestehenden Fabriken laufen an der oberen Kapazitätsgrenze. Deshalb sucht Volkswagen nach einem Unternehmen, das zu kaufen ist. Denn dort könnten zusätzliche Käfer entstehen, so die Überlegungen in Wolfsburg. 1962 bekundet VW-Chef Heinrich Nordhoff Interesse an einem Kauf der Auto Union, die seit vier Jahren zu Daimler-Benz gehört. Die Stuttgarter übernahmen die Auto Union nur auf Druck eines gemeinsamen Aktionärs. Das Angebot aus Wolfsburg ist eine gute Gelegenheit, die Auto Union abzugeben. Daher stimmt Daimler-Benz sogar einer schrittweisen Übernahme zu. Denn auf einen Schlag kann sich Volkswagen die Auto Union damals gar nicht leisten.

Keiner weiß, dass dieser Kauf später einmal den Konzern rettet. Jetzt kommt mit dem Kauf des Autobauers aus Ingolstadt nur der DKW F102 in den Volkswagen-Konzern. Das ist immerhin ein großer Schritt in ein zuvor nicht bedientes Marktsegment. Der mit einem von Daimler-Benz stammenden Viertakt-Motor zum Audi F103 gereifte F102 verlängert den Sprung nach vorne. Doch auch am Mittellandkanal streben die Entwickler nach Höherem. Sie denken längst über größere Volkswagen nach. Ein erster Schritt ist der große Karmann Ghia, den VW gern als „A Ladies‘ Sportscar“ bezeichnete. Da liegt es doch nahe, auch ein Auto für ihre Männer zu bauen, um hier mal die Weltsicht der 1960er-Jahre zu nutzen.

Vorbild Chevrolet Corvair?

Ein größerer Volkswagen würde zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Denn ein Auto, das in der deutschen Heimat die Oberklasse bedient, geht auf dem wichtigen US-Markt als kompaktes Auto durch. Dort präsentierte General Motors schon 1959 den Chevrolet Corvair. Der Corvair gilt in diesen Jahren als innovative Entwicklung. Dabei spielte vor allem eine Rolle, der kompakte Amerikaner brach konsequent mit dem bisher in Detroit üblichem Design. Der Corvair verzichtete auf Chrom und Heckflossen. Gleichzeitig setzten die US-Designer mit der umlaufenden Sicke auf Höhe der Schulterlinie einen neuen Trend. Ihn griffen Autobauer in der ganzen Welt bald auf.

Das Design des Chevrolet Corvair war bei seinem Debüt eine Sensation.

Das Design des Chevrolet Corvair war bei seinem Debüt eine Sensation. Trotz seiner Größe sah GM den Corvair als amerikanischen Anti-Käfer. (Foto: General Motors, Chevrolet)

Auch technisch brach der Corvair mit den zuvor gelebten Konventionen des US-Autobaus. Denn Chevrolet setzte auf einen luftgekühlten Boxermotor im Heck, der die Hinterräder antrieb. Der Chevrolet Corvair, dessen 90 PS kräftiger Sechszylinder an Porsche erinnerte, war trotz seiner Größe (4,57 Meter Länge und 1,70 Meter Breite) eine amerikanische Antwort auf den VW. Das funktionierte zunächst gut. Die Auto-Zeitschrift „Motor Trend“ erklärte den Corvair 1960 zum Auto des Jahres. Das renommierte Time-Magazin hob das Auto und seinen geistigen Vater, den Chevrolet-Manager Ed Cole auf den Titel. Und bei Volkswagen begannen Überlegungen, eine Gegenantwort auf den Corvair zu finden.

Im klassischen VW-Deutsch bekam das Projekt den Namen „Volkswagen Entwicklungs-Auftrag 128“ (VW EA 128). Wie schon zuvor beim Typ 3 blieben sich die Techniker auch diesmal treu. Ganz Volkswagen bekam EA 128 einen luftgekühlten Heckmotor. Wofür die Techniker in das Regal von Porsche, traditionell eng mit VW verbunden, griffen. Denn für ihren Prototypen nutzten sie Fahrwerksteile sowie den 90 PS starken Motor vom 1963 präsentierten 901, der kurze Zeit später zum 911 wurde. Über alles stülpten sie eine genauso kantige wie sachliche Karosserie. Der Experimental Safety Volkswagen (ESVW) von 1972 wirkt wie ein gedanklicher Nachfolger dieser Karosserie.Trotz Limousine und Kombi gab es keinen VW EA 128!

Motor des VW EA 128

Im Heck des Prototypen schlägt ein Herz von Porsche. Für den EA 128 nutzte VW den 90 PS kräftigen Sechszylinder aus dem Porsche 901 – der später zum Porsche 911 wurde. (Foto: Stiftung AutoMuseum Volkswagen)

Optisch verzichteten die Entwickler auf jedes Markenzeichen. Damit konnten sie, so die Legende, die Prototypen ungehindert im öffentlichen Straßenverkehr testen. Zwei dieser Prototypen gibt es heute noch. Eine Limousine gehört der Stiftung AutoMuseum Volkswagen. Im Magazin der Autostadt gibt es einen Kombi. Zusammen offenbaren die Prototypen, was hätte sein können. Besonders der Kombi fasziniert. Denn so große Kombis gab es bis heute nur in vergleichsweise kleinen Stückzahlen. EA 128 hätte zudem der erste VW mit vier Türen sein können. So gab es das erst 1968 beim VW 411, den Spötter bald „vier Türen, elf Jahre zu spät“ tauften.

Doch aus dem VW EA 128 wurde nie ein Serienmodell. Heinrich Nordhoff stoppte das Projekt. Der Einstieg der Marke VW in die Oberklasse musste so noch fast vier Jahrzehnte warten. Über die Gründe lässt sich trefflich spekulieren. Ein Grund waren sicher die Kosten. Denn auch vor bald sechs Jahrzehnten kostete der Anlauf eines neuen Modells viel Geld. Und das fehlte den Wolfsburgern, mussten sie doch gerade die Raten für die Auto Union bedienen. Die Übernahme zog sich bis Ende 1966 hin. Insofern war der Autobauer in dieser Zeit sicherlich finanziell nicht auf Rosen gebettet.

Cockpit des VW EA 128

Das Cockpit des VW EA 128 wirkt vertraut. Tatsächlich griffen die Entwickler auch beim Lenkrad und dem Tacho ins Regal von Porsche. (Foto: Stiftung AutoMuseum Volkswagen)

Zudem ist fraglich, ob VW mit dem EA 128 auf die notwendigen Stückzahlen gekommen wären. Der Blick zum großen Borgward P 100 zeigt, wie schwer es war, in der Oberklasse in Deutschland Fuß zu fassen. Auch ein Erfolg im Rest Europas war unwahrscheinlich. Blieben nur die USA. Doch dort verlor das Vorbild Chevrolet Corvair schneller als erwartet die Gunst des Publikums. Denn die Designikone lief wegen einer schlecht abgestimmten Hinterachse nur unruhig geradeaus, reagierte empfindlich auf Seitenwind und neigte in Kurven zum übergangslosem Übersteuern. Dies sorgte für eine Unfallserie, die Ralph Nader in seinem Buch „Unsafe at Any speed“ aufgriff.

Fraglich, ob der VW EA 128 überhaupt funktioniert hätte?

Nach der Veröffentlichung des Buchs brachen die Verkäufe des Chevrolet Corvair ein. 1962 verkauften die Chevy-Händler noch mehr als 300.000 Exemplare des Corvair. 1966 fanden nur noch 100.000 Fahrzeuge einen Kunden, ein Jahr später sogar nur noch 27.000 Exemplare. Deshalb stellte Chevrolet das Modell 1969 ein. Insofern tat Volkswagen wohl gut daran, die Idee EA 128 nicht weiterzuführen. Das Auto hätte nur eine begrenzte Zeit funktioniert und so die Krise, in die VW Anfang der 1970er-Jahre fuhr, vorgezogen. Wer weiß, ob es dann je zum Phaeton, der VW im Jahr 2002 in die Oberklasse führte, gekommen wäre? Denn bereits ohne eine Realisierung von EA 128 überlebte Volkswagen Anfang der 1970er-Jahre nur knapp. Gut möglich, dass der große Volkswagen ein Sargnagel gewesen wäre.


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