Auto-Erinnerungen

Experimental Safety Volkswagen (ESVW) von 1972

Als Sicherheit an Bedeutung gewann!

Beim Stöbern im virtuellen Archiv von Volkswagen fand ich vor ein paar Tagen ein Foto des Experimental Safety Volkswagen (ESVW). Mit dem Forschungsfahrzeug zeigte VW 1972 seine Vision vom sicheren Autofahren. Parallel zu VW stellten auch andere Autobauer in diesen Jahren besonders sichere Studien vor. Was war eigentlich der Auslöser dafür?

Experimental Safety Volkswagen (ESVW) von 1972, Foto Volkswagen AG
Das Experimental Safety Volkswagen (ESVW) ist ein Sicherheits-Forschungsfahrzeug aus dem Jahr 1972. VW zeigte es 2018 auf der Techno Classica in Essen. (Foto: Volkswagen AG)

Das Thema Sicherheit gewann bei fast allen Autobauern ab den 1960er zunehmend an Bedeutung. Waren Unfallopfer zuvor ein notwendiges Übel der zunehmenden Motorisierung, galt es nun, die Zahl der Toten zu reduzieren. Denn bisher war das Auto ein lebensfeindlicher Ort. Aus Metall geformte Armaturenbretter und tief in den Innenraum ragende Lenkräder gefährdeten die Insassen. Steife Fahrzeugkarosserien – ohne jede Knautschzonen – gaben Aufprallkräfte direkt und ungehemmt an die Mitfahrer weiter.

Autobauer wie Daimler-Benz oder Volvo begannen, das Unfallgeschehen systematisch mit Crashtests zu erforschen. Zudem schickten sie Ingenieure los, die Unfallautos analysierten. Ford entwickelte Crashtest-Dummys, um die Wirkung von Unfällen auf die Insassen noch genauer zu erforschen. Volkswagen begann 1965 ebenfalls Crashtests durchzuführen. Denn allen war klar, das Auto musste zum Überlebensraum reifen, um die eigenen Geschäfte fortzuführen.

Ralph Nader und sein Buch „Unsafe at Any speed“ veränderten alles!

Denn die Stimmung drehte sich, Unfalltote verloren an gesellschaftlicher Akzeptanz. Als Auslöser dieser Bewusstseinsänderung gilt heute Ralph Nader. Der US-Anwalt und Verbraucherschützer veröffentlichte 1965 sein Buch „Unsafe at Any speed“. In diesem kritisierte Nader den mangelnden Schutz der Passagiere im Auto, ging besonders hart mit Cabrios ins Gericht. Zudem wetterte der Anwalt gegen den Heckmotor. Im Zentrum der Kritik stand der Chevrolet Corvair. Denn die Designikone verfügte wegen einer schlecht abgestimmten Hinterachse über mangelnde Geradeauslaufeigenschaften, war Seitenwindempfindlichkeit und neigte zum übergangslosem Übersteuern.

Nader war überzeugt, dass die Autoindustrie bewusst konstruktive Schwächen ihrer Autos in Kauf nahm, um die eigenen Gewinne zu erhöhen. Kritiker Naders halten das Buch bis heute für geschicktes Content-Marketing. Denn natürlich gewann der Anwalt mit Hilfe des Buchs auch Klienten. Doch losgelöst davon entfaltete das Buch eine Wirkung, der sich die Autoindustrie nicht verschließen konnte. So brachen die Verkäufe des Chevrolet Corvair nach der Veröffentlichung des Buchs dramatisch ein. Sicherheit wurde offensichtlich wichtig. Die zahlreichen Forschungsfahrzeuge der frühen 1970er-Jahre dokumentieren dies eindrucksvoll.

Die USA ging voran!

Neue Zulassungsvorschriften in den USA beschleunigten ab 1975 die Entwicklung. Denn auf dem damals größten Automarkt der Welt mussten neuzugelassene PKW ihre Stoßfänger fortan in einer bestimmten Höhe tragen. Zudem durften sie sich bei einem Zusammenstoß mit einer Geschwindigkeit von fünf Meilen pro Stunde nicht verformen. Das veränderte die Modellpalette der Autobauer. Ab 1976 wagte es für gut sechs Jahre kein US-Autobauer ein Cabrio zu bauen.

Der Import offener Roadster in die USA kam praktisch zum Erliegen. Ein Umstand, der den Tod der britischen Autoindustrie beschleunigte. Schließlich lebten die British Leyland-Töchter Triumph und MG zuvor hauptsächlich vom US-Geschäft. Der Mercedes-Benz SL war zeitweise das einzige Cabrio auf dem US-Markt. Wer noch offen fahren wollte, der fand bei nur noch bei Autos wie dem FIAT X1/9, dem Porsche 911 Targa, dem Ferrari 308 GTS oder dem Datsun 280ZX mit ihren herausnehmbaren Dächern eine Lösung.

ESVW I war der Beitrag zur Sicherheit von Volkswagen!

Im Vorgriff auf die neuen US-Vorschriften zeigte Volkswagen 1972 seine Idee von einem sicheren Fahrzeug. Bei der Vorstellung des ESVW I legte Deutschland größter Autobauer besonderen Wert auf die Alltagstauglichkeit des „Experimental Safety Volkswagen“. Denn VW war sich sicher, dass das Auto theoretisch so in Serie gehen könnte. Herzstück der 4,73 Meter langen Limousine war ihre aus drei Zonen bestehende Karosserie-Sicherheitsstruktur. Ihre Türen verfügte über einen damals ungewöhnlichen Seitenaufprallschutz. 

Karosserieversionen des VW ESV von 1971
Im Zuge der Entwicklung entwarf Designer Herbert Schäfer zwei unterschiedliche Karosserieversionen. Die Linke erinnert uns heute etwas an das FIAT 128 Coupe. Sie blieb ein Modell. Stattdessen stellte VW die Limousine als ESVW auf die Räder, um diese Studie 1972 zu präsentieren.

Im Innenraum bot die Studie ein vollautomatisches Gurtsystem mit Gurtstraffern, Schulter- und Kniegurten sowie spezielle Sicherheitssitze. Alles zusammen sorgte dafür, dass die Studie die damals angekündigten US-Sicherheitsvorschriften deutlich übertraf. Interessant ist, dass Opel zwei Jahre nach Volkswagen im Opel Safety Vehicle ein vergleichbares Innenraum-Konzept vorstellte. Verantwortlich für die Gestaltung der Karosserie war Herbert Schäfer, der später unter anderem den Golf II in Form bringen sollte. Schäfer entwarf Anfang der 1970er-Jahre zwei ESV-Karosserieversionen, eine schaffte es bis zum Messeprototypen.

Bei der Suche nach dem dringend benötigten Käfer-Nachfolger war die Studie trotzdem keine Alternative. Sie war vermutlich zu groß, obwohl Volkswagen bereits gut zehn Jahre zuvor mit dem EA 128 eine Oberklasse-Limousine entwarf. Doch in diese Regionen drang VW erst in der Ära von Ferdinand Piëch vor. So entstand parallel zum ESVW der etwas kleinere VW-Retter Golf. Immerhin übernahm die zweite Generation des Audi 100 später einige Designmerkmalen der ESVW I-Studie.


Infos zum Titelbild dieses Beitrags:
Das Experimental Safety Volkswagen (ESVW) ist ein Sicherheits-Forschungsfahrzeug aus dem Jahr 1972. VW zeigte es 2018 auf der Techno Classica in Essen.

Foto: Volkswagen AG

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Als Kind der 1970er-Jahre hatte Tom das große Vergnügen, in einem ausgesprochen automobilen Umfeld aufzuwachsen. Das war der optimale Nährboden, um heute über Autos zu schreiben und regelmäßig am Mikrofon über Autos zu sprechen. Denn Tom Schwede moderiert seit 2010 bei großen Oldtimer- und Klassik-Veranstaltungen in Deutschland. So ist Tom unter anderem bei den Classic Days (früher Schloß Dyck, heute in Düsseldorf) oder dem 1.000 Kilometer-Rennen am Nürburgring zu hören. Wenn Sie also einen Moderator oder Streckensprecher für Ihre Oldtimer-Rallye oder Ihr Oldtimer-Treffen suchen, dann sind Sie bei Tom definitiv richtig!

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