Auto-Erinnerungen

Gyro-X – wenn ein Auto nur zwei Räder zum Fahren benötigt

Am Concorso D`Eleganza Villa D`Este nahm vor 14 Tagen der Prototyp Gyro-X teil. Das ungewöhnliche Fahrzeug der ehemaligen Gyrocar Company sieht zwar oberflächlich wie ein klassisches Auto aus. Doch es rollt wie ein Motorrad auf zwei hintereinander angebrachten Rädern. Das machte mich neugierig, was hinter diesem Fahrzeug steckt.

Die Form des Gyro-X erinnert – von der Seite gesehen – entfernt an das DeltaWing-Coupé. Doch im Unterschied zum Anfang dieses Jahrzehnts von Ben Bowlby entworfenen Rennwagen rollt der Oldtimer nur auf zwei Rädern. Die Stützräder, die ein Umkippen des Fahrzeugs verhindern, benötigt der Gyro-X nur bei abgestelltem Motor. Sie klappen nach dem Start des Motors ein. Denn dann stabilisiert ein Gyroskop das ungewöhnliche Fahrzeug.

Eine lange schmale Zigarre mit nur zwei Rädern ... Gyro-X ...entstanden 1967 in den USA
Eine lange schmale Zigarre mit nur zwei Rädern … Gyro-X …entstanden 1967 in den USA (Foto: BMW)

Der lange Vorlauf des Gyroskops als Steuerungsinstrument!

Diese Technik des Kreiselstabilisators kennen moderne Menschen vom Segway Personal Transporter. Auch andere selbstbalancierende Fahrzeuge wie Toyotas Winglet oder der HUBO Labs Huboway halten dank eines Gyroskops das Gleichgewicht. Genauso wie bei Torpedos, Raketen oder Modellflugzeugen und -Hubschraubern kommen in all diesen Fahrzeugen Kreiselsysteme zur Lagestabilisierung zum Einsatz. Trotzdem war ich überrascht, als ich bei BMW als Hautsponsor des Concorso D`Eleganza Villa D`Este in der Bild-Datenbank stöberte, dass diese Technik bereits vor 50 Jahren bei einem Auto Anwendung fand.

Gyro-X beim Concorso D`Eleganza Villa D`Este 2019
Gyro-X beim Concorso D`Eleganza Villa D`Este 2019 (Foto: BMW)

Das Prinzip dahinter, die sogenannte Drallstabilisierung erkannte der Gelehrte Jakob Bernoulli bereits gegen Ende des 17. Jahrhunderts. Der Mathematiker und Physiker Leonhard Euler entwickelte rund 150 Jahre später das theoretische Modell zum kräftefreien Euler-Kreisel weiter. 1810 setzte Johann Gottlieb Friedrich von Bohnenberger an der Universität Tübingen im ersten Kreiselkompass die Theorie in der Praxis um. Auch die Kinderspielzeuge Schnur- und Brummkreisel funktionieren auf dem von Euler und Bernoulli beschriebenen Prinzip.

Aus dem Weltall auf die Straße!

In der Welt der Technik gewann die Fähigkeit mit einer Rotation die Lage eines Körpers zu stabilisieren, in den 1960er-Jahren an Bedeutung. Denn die USA und die UdSSR eroberten mithilfe der Gyroskop-Technik das Weltall und den Mond. Gyroskop-Spezialist Thomas O. Summers holte das Prinzip auf die Erde zurück. In Alex Tremulis fand der amerikanische Ingenieur einen Mitstreiter, der zuvor als Designer bei Cord Automobile, Duesenberg, GM, Tucker Car Corporation und der Ford Motor Company Autos gestaltete.

1967 gründeten Tremulis und Summers mit einem Startkapital von 750.000 US-Dollar die Gyrocar Company. Mit dem im Van Nuys, einem Stadtteil von Los Angeles beheimateten Unternehmen planten die Gründer den Bau eines einspurigen Autos. Bei der Stabilisierung vertraute Chef-Entwickler Summers auf einen Gyroskop. Ganz neu war die Idee damals übrigens nicht. Denn bereits 1909 versuchte sich Pyotr Petrovich Shilovsky an einem ähnlichen Fahrzeug.

Besitzer Jeff Lane mit seinem Gyro-X - Die Stützräder benötigt das ungewöhnliche auto nur, wenn der Motor nicht läuft.
Besitzer Jeff Lane mit seinem Gyro-X – Die Stützräder benötigt das ungewöhnliche auto nur, wenn der Motor nicht läuft.(Foto: BMW)

Tremulis und Summer wollen mit ihrer Konstruktion den Komfort eines Autos mit dem Platzbedarf eines Motorrads verbinden. Die Firmengründer sahen in dieser Idee eine Lösung, um dem immer dichter werdenden Verkehr zu begegnen. Zudem ist die Konstruktion leichter und sparsamer als die damals in den USA verbreiteten Straßenkreuzer. Das soll preisbewusste Autofahrer ansprechen.

Das Schwungrad im Gyro-X ist 100 Kilo schwer und rotiert mit 3.000 Umdrehungen pro Minute!

Für Stabilität des Gyro-X sorgt ein Schwungrad, das Summers senkrecht zwischen Vorderrad und Fahrer positioniert. Es hat einen Durchmesser von 22 Zoll (55,88 Zentimeter) und wiegt etwas mehr als 100 Kilogramm. Wobei Summers einen möglichst großen Anteil des Gewichts am äußeren Rand des Schwungrads unterbrachte, um dessen stabilisierende Wirkung zu maximieren. Eine Hydraulik beschleunigt das Schwungrad auf eine Geschwindigkeit von 3.000 Umdrehungen pro Minute.

Das Gehäuse, in dem das Schwungrad läuft, hängt oben und unten in zwei Lagern. Eine Schubstange kann das Gehäuse in diesen Lagern verdrehen. Der Eine oder Andere erinnert sich vielleicht an einen Versuch aus dem Physikunterricht. Ein Schüler sitzt mit einem rotierenden Fahrradreifen in den Händen auf einem drehbaren Hocker. Wenn der Schüler den drehenden Reifen etwas kippt, bewegt sich der drehbare Sitz mit dem Schüler von alleine zur Seite.

Die Scheinwerfer deckt eine Klappe ab, wenn sie ausgeschaltet sind. Die seitlichen Ausleger schützen den Gyro-X vor dem Umfallen.
Die Scheinwerfer deckt eine Klappe ab, wenn sie ausgeschaltet sind. Die seitlichen Ausleger schützen den Gyro-X vor dem Umfallen. (Foto: BMW)

Im Gyro-X sorgt genau dieser Effekt dafür, dass das Auto beim Fahren nicht umfällt. Das Bewegen des Gehäuses mit dem darin laufenden Schwungrad balanciert das gesamte Fahrzeug aus. Das funktioniert sogar, wenn das Fahrzeug steht. Weshalb die Stützräder, über die das Gefährt am Heck verfügt, nach dem Start des Motors einklappen. Für die Bewegung des Schwungrad-Gehäuses sorgt ein massiver mechanisch gesteuerter Hydraulikzylinder. Denn einen Steuercomputer gibt es im Gyro-X nicht.

Um in Kurven die Seitenneigung zu kontrollieren, bewegt sich das Schwungrad-Gehäuse immer im Gleichklang zum Vorderrad. Woraus Physiker jetzt sicher sofort ableiten, dass das Schwungrad in seinem Gehäuse „rückwärts“ rotiert. Denn nur so lässt sich der Lenkimpuls ohne Umlenkung direkt auf den Hydraulikzylinder übertragen, was die Konstruktion vereinfacht. Liefe das Schwungrad andersherum, müsste es sich gegenläufig zum Vorderrad bewegen.

Beim Antrieb vertraut der Gyro-X auf den Motor des Mini!

Die gesamte Konstruktion ruht in einem soliden Rahmen aus massiven Gitterrohren. Das Schwungrad und die Hydraulik brachte Technik-Chef Summers zwischen Vorderrad und Fahrgastzelle unter. Den Motor packte der Ingenieur ins Heck. Wobei sich der Entwickler für den Motor des Austin Mini Cooper S entschied. Denn dessen A-Serie genannter Motor verbindet – moderat getunt – kompakte Abmessungen und geringes Gewicht mit einer Leistung von 80 PS.

Gyro-X beim Einparken ...
Gyro-X beim Einparken … (Foto: BMW)

Das ist auch notwendig. Denn schließlich treibt der Motor nicht nur das gesamte Fahrzeug an, sondern sorgt auch für genügend Druck im Hydrauliksystem. Designer Alex Tremulis verpackte die gesamte Konstruktion mit einer ansprechenden Karosserie. Sie besteht ganz im Stil der Zeit aus Glasfaserverstärkten Kunststoff (GFK). Den Bau der Karosserie übernahm Troutman-Barnes. Diesen Karosseriebauer kennen Porsche-Freunde vom viertürigen Porsche 911 Saloon Foursche.

Trotz aller Bemühungen bleibt der Gyro-X ein Einzelstück. Zur ursprünglich geplanten Serienproduktion kommt es nicht. Dabei spielt wohl auch eine Rolle, dass die Konstruktion auf der Straße bei einem Tempo von 100 Kilometern pro Stunde instabil wurde. Offensichtlich kam die mechanische Steuerung bei diesem Tempo an ihre Grenzen. Das ursprüngliche Ziel, mit dem Gyro-X ein Tempo von 170 Kilometern pro Stunde (125 Meilen) zu erreichen, erwies sich damals als nicht realisierbar.

Zudem war die Entwicklung teuer. Das durchaus stattliche Startkapital von 750.000 US-Dollar, schließlich entspricht das heute einem Geldwert von rund sechs Millionen Dollar, war bereits Ende 1969 / Anfang 1970 aufgebraucht. Die Gyrocar Company meldete Insolvenz an. Der Gyro-X steht in den kommenden Monaten zeitweise unter freiem Himmel. Designer Tremulis wandte sich seinem Designstudio zu, gestaltete dort beispielsweise den Subaru BRAT. Trotzdem versuchte Tremulis, den Gyro-X in einem Museum unterzubringen.

Doch Thomas O. Summers hat andere Pläne. Der Ingenieur stellte 1975 ein weiteres Fahrzeug mit Kreiselstabilisator vor. Doch auch dieses Glykolipide genannte dreirädrige Auto schafft es nicht in größeren Stückzahlen auf die Straße. Trotzdem glaubt Summers weiter an die Zukunft des Gyroskop. Bis in die 1980er-Jahre tauschen sich Summers und Tremulis regelmäßig in Briefen aus. Die Briefe wirken allerdings, als ob zumindest Tremulis inzwischen verstand, dass die Welt nicht auf Autos mit zwei Rädern wartet.

„Perhaps someday you will meet with a group of great vision. IF SO your contribution to the art will be the achievement of our century. May 1981 be the year of the GYRO.”

Schreibt Alex Tremulis 1981 in einem Brief an Thomas O. Summers, den das Lane Motor Museum auf seiner Webseite zitiert.

In diesen Zeilen klingt jede Menge Skepsis durch. Denn diese Zeilen sind wohl wie folgt zu lesen: „Möglicherweise wirst Du eines Tages die große Erleuchtung finden. Wenn das passiert, wird Deine Erfindung zu den großen Errungenschaften unseres Jahrhunderts zählen. Möge 1981 das Jahr des Gyro werden.“

Auch der Gyro-X taucht bis weit in die 1970er-Jahre immer mal wieder in der Presse auf. Erst Anfang der 1980er-Jahre verliert sich seine Spur vorübergehend. Irgendwie gelangt das Fahrzeug in diesen Jahren nach Las Vegas. Denn im Juli 1994 bezahlt die dort beheimate Futuristic Customs Unlimited von Paul Richardson und Reta Lee mit dem Gyro-X offene Rechnungen. Wobei das Fahrzeug inzwischen auf drei Rädern rollt und über einen VW-Motor verfügt. Vom Gyroskop fehlt jede Spur.

Neuer Besitzer wird John Needham, der den traurigen Rest auf seinem Grundstück parkt. Erst nach mehr als zehn Jahren wendet sich der Schausteller und Musiker wieder dem Gyro-X zu. 2009 veröffentlicht Needham auf YouTube ein Video, das den bedauernswerten Zustand zeigt. Über einen texanischen Sammler gelangt das Fahrzeug gut zwei Jahre später in den Bestand des Lane Motor Museum in Nashville, Tennessee.

Die Restauration des Gyro-X dauert sechs Jahre!

Dort feiert das Fahrzeug seine Wiederauferstehung. Bereits 2013 berichtete das US-Blog Hemmings Daily über die Restauration. Doch die Arbeiten ziehen sich über mehr als sechs Jahre hin. Allein die Rekonstruktion des Gyroskops benötigte mehr als zwei Jahre. Nach langer Suche fand Museumsbesitzer Jeff Lane in Italien ein Unternehmen, das normalerweise Stabilisatoren für Schiffe herstellt. Es übernahm den Nachbau des Gyroskops und leistete damit wohl den wichtigsten Beitrag zur Wiederauferstehung des Gyro-X.

Genau 50 Jahre nach dem Debüt auf der New York Auto Show kehrte der Gyro-X in die Öffentlichkeit zurück. Das Lane Motor Museum zeigte das Fahrzeug 2017 in Pebble Beach. Zurzeit ist das ungewöhnliche Auto auf Europatour. Erst im September kehrt es wieder in das Museum in Nashville zurück. Insofern wird es spannend, wo das ungewöhnliche Auto nach der Europapremiere beim Concorso D`Eleganza Villa D`Este in den kommenden Wochen noch auftaucht. Passen würde es sicher nach Goodwood oder auch zu den Classic Days auf Schloss Dyck.


Infos zum Titelbild dieses Beitrags:
Gyro-X beim Concorso D`Eleganza Villa D`Este 2019 (Foto: BMW)

Foto: BMW

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Als Kind der 1970er-Jahre hatte Tom das große Vergnügen, in einem ausgesprochen automobilen Umfeld aufzuwachsen. Das war der optimale Nährboden, um heute über Autos zu schreiben und regelmäßig am Mikrofon über Autos zu sprechen. Denn Tom Schwede moderiert seit 2010 bei großen Oldtimer- und Klassik-Veranstaltungen in Deutschland. So ist Tom unter anderem bei den Classic Days (früher Schloß Dyck, heute in Düsseldorf) oder dem 1.000 Kilometer-Rennen am Nürburgring zu hören. Wenn Sie also einen Moderator oder Streckensprecher für Ihre Oldtimer-Rallye oder Ihr Oldtimer-Treffen suchen, dann sind Sie bei Tom definitiv richtig!