Der Schweizer und sein Formel-1-Bolide waren 1980 Stargast bei einem Auto-Korso in Kiel. Diese Gelegenheit konnte ich mir als Schüler in der norddeutschen Provinz natürlich nicht entgehen lassen. Denn endlich bot sich mir die Chance, mit dem ATS D4 einen Formel 1-Rennwagen einmal live zu bestaunen.
Treue Leser wissen, dass ich Kieler bin. Doch Studium und Berufsleben verschlugen mich nach Nordrhein-Westfalen. Meine Heimatstadt an der Ostsee gilt als Mekka des Segelns. Die Kieler Woche ist nicht nur ein Volksfest. Sie gilt als der wichtigste Segel-Wettbewerb der Welt. Mit dem THW Kiel ist im hohen Norden die erfolgreiche deutsche Handball-Mannschaft zu Hause. Holstein Kiel war schon in den Gründungstagen des Fußballs eine nationale Größe, feierte den bereits 1912 den Titel des Deutschen Meisters. Als Fan durfte ich in den Kieler Nachrichten sogar einmal meine Holstein-Traumelf nominieren.
In Kiel gab es auch Auto- und Motorrad-Rennen!
Doch Kiel hat auch eine veritable Motorsport-Vergangenheit. Einmal im Jahr drehten früher die Stahlschuh-Artisten auf dem „Nordmarksportfeld“ im Herzen der Stadt ihre Runden. Besonders Lokalmatador Egon Müller, der bis heute einzige deutsche Speedway-Weltmeister, lockte das Publikum in Scharen an den Rand des „Norders“, um das Grasbahn-Rennen zu bestaunen. Von 1949 bis 1952 war mit dem „Kieler Hafenkurs“ ein Autorennen Bestandteil der Kieler Woche. Hier traten Sportwagen und Formel 3-Boliden auf einer vier Kilometer langen Rundstrecke im Norden der Innenstadt an. Wie in Monte Carlo fuhren die Rennwagen dabei teilweise direkt am Meer.
Kiel spielte in den Karrieren von zwei deutschen Motorsport-Größen eine wichtige Rolle. Sportwagen-Ass Kurt Ahrens – der vor ein paar Tagen 80 Jahre alt wurde – fuhr einst in Kiel sein erstes Rennen. Bei der 1972 in Kiel gestarteten Olympia-Rallye fuhr sich der spätere Rallye-Weltmeister Walter Röhrl ins Bewusstsein der Rallye-Szene. Doch das war alles vor meiner Zeit. Selbst an den Start der Olympia-Rallye kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern. Ich war damals schließlich noch ein Kleinkind. Als Schüler dufte ich immerhin ein paar Mal die Grasbahn-Rennen auf dem „Norder“ bestaunen. Bei meinen ersten Besuchen dort drehten sogar noch Autos ihre Runden.
Hans-Joachim Stuck kommt – da musste ich hin!
Trotzdem war Kiel vor 40 Jahren eher eine Diaspora des Motorsports. Ich kompensierte das, indem ich mich damals stundenlang in alle Auto- und Motorsport-Zeitschriften, die ich in die Finger bekam, vertiefte. So verfolgte ich die Rennen der Formel-1- und Sportwagen-WM, der DRM und der ETCC hauptsächlich auf Papier. Aber das hatte auch Vorteile. Denn ich kenne deshalb heute bei meinen Moderationen im historischen Motorsport viele Namen von Autos und Fahrern auswendig, die damals irgendwo rannten. Aber das ist ein anderes Thema. Zurück ins Jahr 1980 als ich natürlich sofort registrierte, als Plakate einen Auto-Korso in der Kieler Innenstadt bewarben.
Denn als Star-Gäste kündigten die Werbeplakate Hans-Joachim Stuck und einen Formel-1-Rennwagen von ATS an. Werbung wirkt, mir war damals sofort klar, da muss ich hin! Und selbstverständlich war ich am Tag der Tage in der Innenstadt. Dort erlebte mein jugendliches Ich zunächst eine Enttäuschung. Denn von Hans-Joachim Stuck fehlte jede Spur. Dafür stand auf dem Rathausmarkt mit dem ATS D4 tatsächlich ein waschechter Formel-1-Bolide. Immerhin dieses Versprechen hatten die Veranstalter gehalten! Wobei das Fehlen von Stuck im Rückblick nachvollziehbar ist. Denn 1980 trat ATS mit Marc Surer und Jan Lammers an.
Der ATS glich meine Enttäuschung aus!
Vor einiger Zeit hatte ich die Gelegenheit bei einer Fahrveranstaltung, mit Hans-Joachim Stuck über mein Jugend-Erlebnis zu sprechen. Der Bayer konnte sich beim besten Willen nicht an eine Event-Buchung aus Kiel erinnern. Auch der angekündigte gemeinsame Auftritt mit ATS verwunderte uns beide. Denn die Zusammenarbeit des Bayern mit ATS endete nach der Saison 1979 nicht geräuschlos. Stuck fuhr im Oktober 1979 letztmals für das deutsche Team. Daher ist es eigentlich unwahrscheinlich, dass der Bayer seinem ehemaligen Team für ein paar Demo-Runden im ATS D4 in der Provinz zusagte.
Der ATS galt damals als „Deutschlands“ schnellstes Auto. Wobei das mit dem deutschen Auto immer so eine Sache war. Felgenhersteller Günter Schmid betrieb 1976 mit mäßigem Erfolg ein Formel-2-Team. Ein Jahr später übernahm Schmid die Reste des Formel-1-Teams von Roger Penske. Etwas später erwarb Schmid zusätzlich weiteres Material sowie die FOCA-Lizenz von March. Auch wenn offiziell immer Bad Dürkheim als Teamsitz galt, war das Team eher ein britisches Formel-1-Team. Nur das Marketing machte den ATS zum deutschen Auto.
Endlich warfen die Mechaniker den Motor an …
… und ich lauschte ehrfürchtig dem Sound des Cosworth DFV. Das waren für mich damals paradiesische Klänge. Die Mechaniker, die den Rennwagen in Kiel betreuten, sprachen übrigens ausschließlich Englisch. Damit war der ATS für mich endgültig der Bote aus einer fremden Welt. Zu den weiteren Gästen des Auto-Korsos gehörten übrigens überwiegend ein paar BMW M1 und Corvette C3 mit Hamburger Kennzeichen. Heute würde ich ja sagen, dass das typische Ludenschleudern waren. Doch für diese Autos hatte ich sowieso keine Augen. Mich fesselte der ATS D4!
Ich wusste, dass der D4 damals das neue Geschoss des Teams war. Bei der Konstruktion stand (offensichtlich) der Williams FW07 Pate. Dieser Williams dachte 1979 die Idee Wing-car, die Lotus ein Jahr zuvor in der Königsklasse des Motorsports etablierte, konsequent weiter. Damit gewann das zuvor chronisch erfolglose Williams Team 1979 plötzlich fünf Grand Prix. Kein Wunder, dass sich ein Jahr später das halbe Feld beim Bau seiner Rennwagen an diesem Rennwagen orientierte.
… Marc Surer prügelte den ATS durch Kiel!
Irgendwann betrat Marc Surer die Szene, gab ein paar Autogramme und stieg ins Cockpit. Kurze Zeit später setzte sich der Bolide in Bewegung. Nach einem Wendemanöver, bei dem die Mechaniker halfen, bog der Rennwagen auf die Rathausstraße ein, um über den Martensdamm, den Lorentzendamm und die Fleethörn seine Runden zu drehen. Die anderen Teilnehmer, die davor unterwegs waren, verlängerten ihre Runden noch etwas. Sie fuhren auch über den Jesendamm und die damals noch vorhandene Straße im Ratsdienergarten. Diesen Teil konnte der ATS D4 gar nicht nutzen, da es dort Kopfsteinpflaster und tiefe Schlaglöcher gab.
Ich ignorierte da alles geflissentlich und erkannte sofort, was für eine tolle Rennstrecke diese Straßen ergaben. Warum sah das außer mir nur niemand? Warum gab es hier kein echtes Rennen? Das Team sah die Strecke offenbar kritischer. Denn die Mechaniker den Boliden mit Regenreifen los, um Bodenfreiheit zu gewinnen. Trotzdem musste Marc Surer auf der holperigen Strecke vermutlich ziemlich leiden. Wobei es nicht davon auszugehen ist, dass der Pilot dem Motor seines Rennwagens irgendwo seine ganzen 480 PS Leistung abverlangte. Doch mir war das egal, ich sah mit dem ATS D4 endlich einen Formel-1-Rennwagen fahren!
Weiß heute noch jemand, wer eigentlich der Veranstalter dieses Events war? Und kennt jemand den genauen Termin?
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