Für viele Oldtimer-Fans stammen „Continuation Models“ direkt aus der Hölle. Andere sehen in ihnen die Möglichkeit, endlich ihren absoluten Traumwagen zu besitzen. Entsprechend heiß führt die Oldtimer-Szene ihre Diskussion über diese Nachbauten. Auch wenn jede Kritik nachvollziehbar ist, ist das Thema interessant. In Großbritannien entstehen zurzeit 24 Bizzarrini 5300 GT Corsa Revival. Jetzt erhielt der erste Kunde seinen Nachbau des legendären italienischen Sportwagens.
Von Klassikern wie dem Ford GT40 oder der AC Cobra gab es schon kurz nach dem Ende ihrer Produktion mehr oder minder gute Nachbauten. Auch den Studebaker Avanti mit seiner von Raymond Loewy gestalteten Karosserie, den die Studebaker Corporation nur zwei Jahre anbot, bauten Dritte praktisch sofort nach. Vom Lotus Super Seven, den Caterham parallel dazu offiziell weiterbaute, gibt es deutlich mehr Nachbauten, als Lotus je fertigte. Insofern ist das Nachbauen definitiv kein neues Thema. Im Laufe der Zeit wurden aus „Replikas“ nur besser klingende „Continuation Models“.
Inzwischen beschreibt „Continuation Model“ ein lukratives Geschäftsmodell!
Aston Martin nutzte schon Ende der 1980er-Jahre einen Oldtimer-Boom, um einige „neue“ Aston Martin DB4 GT Zagato zu bauen. Sie bekamen Fahrgestellnummern, die 30 Jahre zuvor keine Verwendung fanden. Daher gelten diese DB4 heute als erste „Continuation Models“. 2014 bemühte Jaguar den gleichen Trick, um sechs neue Lightweight E-Type zu bauen. Gute drei Jahre später folgten neun Jaguar XKSS. Beim Verkauf dieser Fahrzeuge prägte das Marketing von Jaguar den Begriff „Continuation Models“. Und weil sich diese neuen alten Jaguar prima verkaufen ließen, fielen bald alle Hemmungen.
Aston Martin legte gleich 25 Exemplare des Aston Martin DB4 GT neu auf. Bentley baute ein Dutzend neuer Speed-Six-Modelle. Mit Lister, wo neue Knobbly und Costin entstanden, oder Alvis kehrten sogar untergegangene Marken zurück. Wobei hier strenggenommen die namensgebende Kontinuität fehlt. Doch das interessierte inzwischen längst niemanden mehr. Die Aussicht auf Millionenerträge war offensichtlich zu verlockend. 2020 kam es zur Neugründung der Marke Bizzarrini. Das Original ging schon 1968/69 unter. Womit der Begriff „Continuation Model“ auch im Fall von „Bizzarrini“ arg strapaziert wird.
Giotto Bizzarrini gründete seinen Autobauer 1962!
Ingenieur Giotto Bizzarrini startete 1954 bei Alfa Romeo ins Berufsleben. Nach drei Jahren zog Bizzarrini zu Ferrari weiter. Zusammen mit Carlo Chiti schuf Bizzarrini dort den Ferrari 250 und dessen Ableger GTO. Doch im Herbst 1961 verließen beide aus Protest den Sportwagen-Hersteller. Fausto Galassi, Enzo Selmi und Romolo Tavoni schlossen sich ihnen an. Alle zusammen protestierten damit gegen die Entlassung von Girolamo Gardini. Die Abtrünnigen gründeten im Februar 1962 die Automobili Turismo e Sport (ATS), um auf der Straße und der Rennstrecke ihren alten Arbeitgeber herauszufordern.
Graf Volpi, der mit seinem Rennstall Serenissima schon länger von der großen Welt des Motorsports träumte, finanzierte das Projekt. Doch die Einheit der ATS-Gründer schwand schnell. Die Techniker Giotto Bizzarrini und Carlo Chiti hatten unterschiedliche Vorstellungen davon, was notwendig war, um Ferrari zu schlagen. Entnervt verlies Bizzarrini ATS und gründete 1962 das Konstruktionsbüro Autostar. Dort entstand für den Lamborghini 350 GT ein 3,5 Liter großes Zwölfzylindertriebwerk. Zudem konstruierte Giotto Bizzarrini mit dem Oberklasse-Coupé Iso Rivolta 300 das erste Luxusauto von Renzo Rivolta.
Auf das luxuriöse Coupé folgten der Sportwagen Iso Grifo A3/L (L für „Lusso“) und dessen Wettbewerbsversion Iso Grifo A3/C (C für „Corsa“). 1964 wurde aus Autostar zunächst die Società Prototipi Bizzarrini und ein Jahr später die Automobili Bizzarrini SpA. Denn Rivolta und Bizzarrini trennten sich. Teil ihrer Trennungsvereinbarung war, dass Bizzarrini den A3/C als Bizzarrini GT 5300 eigenständig vermarkten durfte. Damit wurde das Konstruktionsbüro zum Autobauer. Doch so brillant Giotto Bizzarrini als Techniker war, so überfordert war der Ingenieur als Firmenboss. Im Oktober 1968 war die Firma zahlungsunfähig.
Im November 2020 kam es zur Neugründung, um den Bizzarrini 5300 GT Corsa Revival zu bauen!
Seit der Abwicklung des eigenen Autobauers arbeitet Giotto Bizzarrini als Berater für die Autoindustrie. Doch trotz zahlreicher Prototypen, die auf Messen für Furore sorgten, trug kein neues Auto mehr seinen Namen. Im November 2020 gründete Pegasus Brands, ein Autohändler aus London Automobili Bizzarrini neu, um im Anschluss die Rechte an der Marke und an den Konstruktionen von Giotto Bizzarrini zu erwerben. Anfang dieses Jahres gab die Neugründung bekannt, 24 Bizzarrini 5300 GT Corsa Revival zu bauen. Sie sollten bis Ende 2023 in Großbritannien entstehen. Mit Dr. Ulrich Bez ist ein großer Name der Autoindustrie bei dem Projekt an Bord.
Als Vorbild für das „Continuation Model“ wählte Bizzarrini den 5300 GT Corsa mit der Fahrgestellnummer #0222. Mit diesem traten Regis Fraissinet und Jean de Mortemart 1965 bei den 24 Stunden von Le Mans an. Die französischen Rennfahrer steuerten den Bizzarrini auf den neunten Platz im Gesamtklassement. Nebenbei sprang der Klassensieg bei den Prototypen mit mehr als fünf Litern Hubraum heraus. Zur Legende wurde dieser 5300, der damals offiziell als Iso Grifo A3C antrat, auch deshalb, weil Giotto Bizzarrini mit ihm unmittelbar nach dem Rennen auf eigener Achse zurück nach Norditalien fuhr.
Nachtrag vom 21.8.2022: Die in London ansässige Firma Bizzarrini ist nicht identisch mit einem Unternehmen, das als Bizzarrini Automotive GmbH seit Anfang 2016 in Frankfurt ansässig war. Dieses Unternehmen änderte bereits im März 2020 seinen Namen.