Rennsport-Geschichten

Henri Julien und AGS – das letzte Garagen-Team der Formel 1

Im Juli 2013 starb Henri Julien im Alter von 85 Jahren in seiner provenzalischen Heimat. Mit dem Franzosen starb der letzte Garagist der Formel 1. Denn nach dem Abschied des von Julien betriebenen AGS Rennstalls waren wohl alle Teams in der Königsklasse des Motorsports deutlich größer.

Pascal Fabre beim GP von Monaco 1987 mit dem AGS JH22
Pascal Fabre beim GP von Monaco 1987 mit dem AGS JH22 (Foto: Archiv AutoNatives.de)

In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg traten in der Formel 1 überwiegend echte Werksteams an. Insbesondere auf der britischen Insel etablierten sich jedoch bald auch reine Rennwagenhersteller. Diese Teams suchten ihr Glück in der Königsklasse des Motorsports ohne den Background einer Straßenproduktion. Oft traten sie mit bescheidenen Mitteln in der Formel 1 an. Weshalb Enzo Ferrari stets etwas abfällig auf die kleinen Teams herabblickte und sie als „Garagen-Teams“ verspottete. Den Commentatore störte besonders, dass diese Rennwagenhersteller keine eignen Motoren bauten. Denn der Motorenbau war in den Augen des Italieners die wahre Krone des Motorsports.

Trotzdem veränderten die Garagen-Teams den Motorsport!

John Cooper sorgte Ende der 1950er-Jahre dafür, dass der klassische Frontmotor-Rennwagen ein Museumsstück wurde. Der Holzhändler Ken Tyrrell und später auch der Gebrauchtwagenhändler Bernie Ecclestone führten ihre Teams mit ausgeprägtem Geschäftssinn in der Formel 1 zum Erfolg. Der günstig verfügbare Ford-Cosworth Motor animierte insbesondere in den 1970er-Jahren immer wieder kleine Teams zum Abenteuer in der Königsklasse. Doch mit dem Aufkommen der Turbo-Motoren Anfang der 1980er-Jahre veränderte sich die Szene erneut. Die Teams wurden größerem stiegen zu echten Wirtschaftsunternehmen auf.

Damalige Spitzenteams wie Brabham, Williams oder McLaren – alles ehemalige Garagisten – beschäftigten auch vor 30 Jahren in der Regel deutlich mehr als 100 Leute, um im Kreis zu fahren. Trotzdem stiegen auch im Turbozeitalter mit Zakspeed oder dem langjährigen Formel-2-Team Minardi neue Teams in die Formel 1 ein, die deutlich kleiner waren. Als die Turbos in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre ins Museum rollten, verstärkte sich der Drang in die Königsklasse erneut. Und irgendwann in dieser Zeit begann auch Henri Julien und ein Team Automobiles Gonfaronnaises Sportives (AGS) sich ernsthaft mit der Formel 1 zu beschäftigen.

Denn Henri Julien betrieb zu diesem Zeitpunkt seit fast 40 Jahren Motorsport. Von 1950 bis 1966 war der Südfranzose selbst als Pilot aktiv, bestritt mit Eigenbauten Rennen in der Formel 3 und der Formel Junior. Später vertraute der Werkstattbesitzer auf Rennwagen von Lotus und Alpine. Dabei beschränkte sich Julien beschränkte überwiegend auf die Teilnahme an regionalen Rennen. Nur im Rahmenprogramm beim Großen Preis von Monaco (Formel Junior) oder beim Formel 2 Rennen in Pau stellte sich der Pilot Julien regelmäßig auch der internationalen Konkurrenz.

Doch Henri Julien wird den Rennbazillus nicht los

Nach dem Ende der eigenen Fahrerkarriere konzentrierte sich Henri Julien zunächst auf seine Garage de l´Avenir („Werkstatt der Zukunft“) genannte Tankstelle und Kfz-Werkstatt im provenzalischen Dorf Gonfaron. Zusätzlich zu der Kfz-Werkstatt gründete Julien 1969 die Firma AGS. Der Belgier Christian Vanderpleyn, der ab 1960 in der Garage de l´Avenir das Kfz-Handwerk erlernte, konstruierte die Rennwagen für das neue Team. In den kommenden Jahren entstanden zunächst Fahrzeuge für die Formule France, später folgten welche für die Formel 3 und Formel Renault.

Mit Öl-Hersteller Motul als Sponsor wagte AGS 1978 den Schritt in die Formel 2 Europameisterschaft. Hier trat das Team professionell mit zwei Fahrzeugen auf und setzte von Heini Marder vorbereitete BMW-Motoren ein. Neben dem Franzosen Richard Dallest, der bereits zuvor für AGS fuhr, verpflichtete AGS auch José Dolhem. Der ältere Halbbruder von Didier Pironi galt als der typischer Playboy-Rennfahrer, brachte aber zusätzliches Sponsorgeld ins Team. Der Start in der Formel 2 war schwierig. Im ersten Jahr verpassen beide Piloten mehrmals die Qualifikation. Wenn die Qualifikation gelang, verhinderten Unfälle oder technische Probleme meist den Erfolg.

AGS als Sieger in der Formel 2

Bis Ende 1979 gelang dem Team kein einziger Punktgewinn. Trotzdem hielten die Sponsoren dem Team die Treue. Und Konstrukteur Christian Vanderpleyn übertrug das Wing Car-Prinzip, das Lotus zuvor erfolgreich in der Formel 1 etablierte, mit dem AGS JH17 erfolgreich in die Nachwuchsklasse. Richard Dallest gewann 1980 in Pau und Zandvoort zwei Rennen der Europameisterschaft. Doch große Sprünge waren immer noch nicht drin. Das Team musste sich 1981 sogar auf ein Auto beschränken. Doch der neue JH18 ist ein Flop. Gegen die Ralt-Honda, Maurer-BMW und March hat das Team keine Chance. Dallest kann erst gegen Saisonende zweimal in die Punkte fahren.

Philippe Streiff im AGS JH19 bei der INTERNATIONAL TROPHY in Silverstone, einem Rennen der Formel 2-Europameisterschaft 1982.
Philippe Streiff im AGS JH19 bei der INTERNATIONAL TROPHY in Silverstone, einem Rennen der Formel 2-Europameisterschaft 1982. (Foto: Archiv AutoNatives.de)

Trotzdem gelingt 1982 der Neustart, AGS setzt mit Philippe Streiff und Pascal Fabre im Cockpit sogar wieder zwei Rennwagen ein. Besonders Streiff kann von Anfang an regelmäßig in die Punkte fahren. Das Team etabliert sich im Vorderfeld der Europameisterschaft. 1984 gewinnt Philippe Streiff bei der Daily Mail Trophy in Brands Hatch sogar das Finalrennen der klassischen Formel 2 Europameisterschaft. 1985 tritt die neue Formel 3000 an die Stelle des klassischen F1-Vorzimmers. Die FIA erhofft sich von diesem Schritt eine Senkung der Kosten. Denn passende Motoren wie der Ford Cosworth DFV sind reichlich verfügbar. Auch ältere F1-Chassis, die hier theoretisch rennen können, gibt es reichlich.

AGS trotz des Namenswechsels zunächst in der zweiten Liga aktiv. Die Mehrzahl der Teams setzen in der Formel 3000 auf „Massenware“ der großen Rennwagenbauer March und Lola. Einige verwenden auch ehemalige Formel 1 Fahrzeuge von Williams und Arrows. Nur das Ralt-Werksteam und AGS treten mit selbst konstruierten Fahrzeugen an. Am Jahresende belegt Philippe Streiff mit dem JH20 Platz acht, während Christian Danner als erster Deutscher nach dem Zweiten Weltkrieg eine internationale Formel-Serie gewinnt. Doch auch die Formel 3000 ist teuer, die von der FIA angestrebte Senkung der Kosten tritt nicht ein.

Und bei AGS wird die Formel 1 zum Thema

In der Formel 1 dagegen verdienen inzwischen auch Teams im Mittelfeld gutes Geld. Um zu überleben, muss AGS aufsteigen. Es ist übrigens nicht der erste Versuch in der Königsklasse. Denn einige Jahre zuvor setzten Henri Julien und Konstrukteur Christian Vanderpleyn bereits ein modifiziertes Formel-2-Chassis in der britischen Formel 1-Meisterschaft, der Aurora F1 Series ein. Als ersten Schritt auf dem Weg in die Formel 1 Weltmeisterschaft verkauft AGS das gesamte Formel-3000-Material an die Equipe Danielson, einem Rennsportteilehändler aus Clermont-Ferrand. Doch obwohl AGS dem Kunden sogar neue Chassis baut, bleiben die Piloten Richard Dallest und Alain Ferté im AGS der Equipe Danielson Randnotizen der 1986er-Formel 3000-Saison.

Als Ersatz für das eigene Material erwirbt Henri Julien alle Teile und Werkzeuge des Renault-Werksteams, das sich Ende 1985 aus der Formel 1 zurückzog. Auf der Grundlage des Renault RE60 konstruiert Christian Vanderpleyn den ersten Formel-1-Rennwagen von AGS. Auch beim Antrieb hoffen Teamchef und Konstrukteur auf Renault. Doch das Staatsunternehmen entscheidet sich, keine Motoren an AGS zu liefern. Gut möglich, dass die Politik dies verhindert. Denn zu den Kunden von Renault zählt auch die traditionell in der französischen Politik gut vernetzte Équipe Ligier.

F1-Debüt mit dem V6 von Motori Moderni

So bleibt AGS nur der Einsatz des Motori Moderni F.1. Das ist keine optimale Wahl, denn dem Spätwerk des legendären Carlo Chiti fehlen im Vergleich zu den Motoren der Wettbewerber mindestens 150 PS Leistung. Bei AGS kommen aus Kostengründen zudem gebrauchte ältere Motoren zum Einsatz. Damit fehlt vermutlich sogar noch mehr Leistung. Im Sommer 1986 ist der AGS JH21C einsatzbereit. Mit einer Testfahrt von Didier Pironi versteht es das Team, dem eigenen Formel-1-Projekt Aufmerksamkeit zu sichern. Der Test ist ein Freundschaftsdienst, an ein Comeback denkt Pironi nicht. Denn der ehemalige Ferrari-Pilot hätte bei einem Comeback die Entschädigungsleistungen seiner BU-Versicherung zurückführen müssen.

Beim Großen Preis von Italien in Monza feiert AGS sein F1-Debüt. Im Cockpit sitzt der Italiener Ivan Capelli. Am Streckenrand besteht das Team aus sechs Mitarbeitern, wozu auch der Teamchef und der Konstrukteur zählen. Damit erweist sich das Team als echtes Garagen-Team. Capelli gelingt im Training trotz eines unkonventionellen Autos der 25. Platz, lässt beide Osella mit dem alten Euroracing V8 von Alfa Romeo hinter sich. Auch in Portugal gelingt es Capelli den AGS auf Startplatz 25 zu stellen. Diesmal ist neben einem Osella auch ein Zakspeed langsamer als der AGS. In den Rennen scheidet aus. In Italien stoppt ein Reifenschaden die Fahrt, in Portugal streikt das Getriebe. Das Team verzichtet auf den Start bei den abschließenden Überseerennen und kehrt erst 1987 in die Formel 1 zurück.

1987 fährt AGS einen Saugmotor

Denn Geld ist weiter knapp, denn richtiges Geld spielen auch in der Formel 1 nur Ergebnisse in die Kasse. Deshalb betreibt AGS das F1-Projekt weiter auf Sparflamme. Der neue Rennwagen ist, obwohl er offiziell JS22 heißt, ein umgerüsteter JH21C. Im Heck des „neuen“ Rennwagens verrichtet ein neuer Motor seinen Dienst. Mit dem Ford Cosworth DFZ tritt das Team in der Colin-Chapman-Trophy für Saugmotor-Fahrzeuge an. Einziger Pilot ist Pascal Fabre, der sich zunächst regelmäßig für die Rennen qualifizieren kann. Mit dem Einsatz eines zweiten Fahrzeugs, das das Team an einen Paydriver vermieten will, plant Henri Julien im Laufe der Saison die Kasse aufzubessern.

Doch in Österreich, als beim zweiten Startversuch neun Fahrzeuge kollidieren, wird das Chassis des JS22 erheblich beschädigt. Der Ersatzwagen wird zum Einsatzwagen und AGS bleibt ein Einwagenteam. Als Fabre zweimal an der Qualifikation scheitert, verpflichtet das Team kurzfristig Roberto Moreno. Beim Saisonfinale in Australien fährt der Brasilianer sensationell einen WM-Punkt für AGS ein. Trotzdem steht das Team im Winter 1987/88 mal wieder vor dem finanziellen Aus. Erst die Verpflichtung von Philippe Streiff, der Sponsorgeld von Camel und Bouygues mitbringt, sichert dem Team das Überleben.

Mit dem AGS JH23 soll alles besser werden!

Christian Vanderpleyn entwirft trotz des kleinen Budgets dem den AGS JH23. Mit diesem kompakten Fahrzeug löst sich das Team von den Renault-Wurzeln. Das bringt den erhofften Fortschritt, denn Streiff kann sich bei allen Rennen qualifizieren. Nur ein weiterer Punktgewinn gelingt nicht, damit bleibt die finanzielle Lage angespannt. Im Sommer 1988 verlässt zudem Christian Vanderpleyn nach fast dreißig Jahren in der Garage de l´Avenir das Team. Denn auch Henri Julien hat inzwischen keine Lust mehr auf das Formel 1-Abenteuer.

AGS JH23 1988 Silverstone
Mit dem AGS JH23 soll alles besser werden. Und tatsächlich ist der neue Rennwagen ein Schritt nach vorne. Philippe Streiff qualifiziert den Rennwagen regelmäßig, kann jedoch keinen WM-Punkt an Land ziehen. (Foto: Saveferris888)

Im Spätsommer 1988 übernimmt Cyril de Rouvre das Team. Der ehemalige Rennfahrer hält AGS noch rund 2 1/2 Jahre in der Königsklasse. Doch nach der Investition von rund 18 Millionen US-Dollar verliert auch de Rouvre die Lust am chronisch erfolglosen Team. Entnervt verkauft der Franzose das Team an Gabriele Rafanelli und Patrizio Cantu weiter. Die Italiener beendeten das Engagement in der Formel 1 und bieten ab 1991 zahlenden Kunden an, auf der unternehmenseigenen Rennstrecke in Gonfaron Formel-1-Autos zu fahren.

Henri Julien wird Ehrenpräsident dieses Unternehmens. Zudem konstruiert Julien in der Garage de l’Avenir einen Rennwagen für Rekordfahrten. 1997 bricht dieses Fahrzeug einen mehr als 40 Jahren bestehenden Geschwindigkeitsrekord für Fahrzeuge bis 500 ccm Hubraum. Anschließend zieht sich der ehemalige Rennfahrer, Konstrukteur und Teamchef aufs Altenteil zurück. Im Juli 2013 verstarb Henri Julien im Alter von 85 Jahren in seiner provenzalischen Heimat.


Infos zum Titelbild dieses Beitrags:
Pascal Fabre beim GP von Monaco 1987 mit dem AGS JH22

Foto: Archiv: AutoNatives.de

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Als Kind der 1970er-Jahre hatte Tom das große Vergnügen, in einem ausgesprochen automobilen Umfeld aufzuwachsen. Das war der optimale Nährboden, um heute über Autos zu schreiben und regelmäßig am Mikrofon über Autos zu sprechen. Denn Tom Schwede moderiert seit 2010 bei großen Oldtimer- und Klassik-Veranstaltungen in Deutschland. So ist Tom unter anderem bei den Classic Days (früher Schloß Dyck, heute in Düsseldorf) oder dem 1.000 Kilometer-Rennen am Nürburgring zu hören. Wenn Sie also einen Moderator oder Streckensprecher für Ihre Oldtimer-Rallye oder Ihr Oldtimer-Treffen suchen, dann sind Sie bei Tom definitiv richtig!