Heute vor 45 Jahren trat Patrick Depailler mit dem Tyrrell P34 erstmals beim Großen Preis von Spanien an. Dank seiner sechs Räder zählt der P34 zu den ungewöhnlichsten Rennwagen aller Zeiten.
Was für spannende Zeiten waren das, als der Wettbewerb auf der Strecke noch unterschiedliche Konzepte hervorbrachte? Denn bis weit in die zweite Hälfte der 1970er-Jahre konnten Motorsportfans Rennwagen noch allein dank ihrer Form unterscheiden. Der Tyrrell P34 ist insofern ein typisches Kind dieser Zeit. Das ehemalige Weltmeisterteam von Ken Tyrrell sah in sechs Rädern einen Vorteil und baute das passende Fahrzeug. Heute ist das undenkbar. Denn in vielen Fahrzeugklassen wurde es sogar schwerfallen, die heutigen Rennwagen ohne ihr Farbkleid zu unterscheiden. Denn im Windkanal näheren sich die Konstrukteure irgendwann der gleichen – vermeintlich optimalen – Form an. Wenn, wie aktuell Alpine in der Formel 1 ein Team bei der Airbox des A521 mal einen anderen Weg als die Konkurrenz geht, dann ist das fast schon eine Sensation.
1976 war das anders!
Damals war das Starterfeld der Formel 1 ein bunter Haufen völlig unterschiedlicher Ansätze. Im Rückblick war 1976 vielleicht sogar das Königsjahr der Diversität. Die vier kleinen Reifen an der Vorderachse des Tyrrell P34 reduzieren den Luftwiderstand. Experten wissen, wer der Luft beim Fahren weniger Widerstand entgegensetzt, kann mit gleicher Leistung schneller fahren. Wobei die Idee, an der Vorderachse kleinere Reifen zu nutzen, nicht neu war. Wie andere Motorsport-Innovationen dieser Tage, entstand sie zunächst in der CanAm-Serie. Shadow brachte dort den revolutionären Shadow Mk1 an den Start. Dessen Konstrukteur Trevor Harris vertraute bereits auf nur 10 Zoll große Vorderreifen.
Theoretisch sollte das dem ersten Rennwagen von Don Nicols Advanced Vehicle Systems ein Tempo von bis zu 400 Kilometern pro Stunde ermöglichen. Doch Höchstgeschwindigkeit ist im Rennsport immer nur eine Seite der Medaille. Mit den Reifen schrumpften auch die Bremsen. Ungünstig, wenn ein Rennwagen dank mehr Tempo am Bremspunkt eigentlich mehr Bremskraft als die Konkurrenz benötigt. Zudem reduzierte die kleine Aufstandsfläche der Reifen die übertragbaren Seitenführungskräfte. Weshalb die Shadow-Piloten eigentlich mehr Bremskraft als die Kontrahenten benötigten.
Derek Gardner dachte die Idee kleiner Reifen weiter!
Das Projekt von Shadow registrierte auch Derek Gardner. Der Techniker arbeitete seit 1970 als verantwortlicher Konstrukteur für Tyrrell. Jackie Stewart gewann mit Gardners Konstruktionen 1971 und 1973 den Titel des Fahrer-Weltmeisters. Doch nach dem Rücktritt des Schotten und dem Verlust des Hoffnungsträgers François Cevert geriet das Team ins Hintertreffen. Zur Rückkehr an die Spitze, mussten neue Ideen her.
Derek Gardner faszinierte die Idee, mehr Höchstgeschwindigkeit als die Konkurrenz erreichen zu können. Denn damals war ein großer Teil des Feldes mit dem Ford Cosworth DFV unterwegs. Die Unterschiede der Motoren waren gering. Nur ältere Aggregate, wie sie die Hinterbänkler fuhren, fielen etwas ab. Aber an der Spitze lagen die Teams auf einem Niveau, auch wenn das eine oder andere Team seine Motoren besonders optimierte. Deshalb war es verlockend, dem Auto mit einem geringeren Luftwiderstand einen Vorteil zu sichern. Doch nach dem Scheitern des Shadow Mk. I war klar, dass die Nachteile die Vorteile überwiegen. Deshalb überlegte Derek Gardner, vier Vorderreifen zu verwenden. Zur Umsetzung entwarf der Konstrukteur eine komplexe Vorderachse mit vier lenkbaren Vorderrädern. Teamchef Ken Tyrrell stimmte dem Bau zu und aus der Idee wurde Realität.
Schon Ende September 1975 präsentierte Tyrrell den neuen Rennwagen der Öffentlichkeit. Zu diesem Zeitpunkt gab es nur einen Testträger. Ihn führte das Team am 8. Oktober 1975 in Silverstone erstmals auf der Strecke aus. Dabei verfügte der P34 noch über den typischen Luftsammler, den Rennwagen damals trugen. Doch die FIA verbot diese später. Nach weiteren Testfahrten im Winter 1975/1976 modifizierte Derek Gardner zudem das ursprüngliche Konzept etwas. Die Einsatzfahrzeuge erhielten einen etwas längeren Radstand. Das verzögerte das Renndebüt bis zum vierten Saisonlauf.
Erst beim Großen Preis von Spanien stellte sich der Tyrrell P34 der Konkurrenz. Wobei nur ein P34 für Patrick Depailler zur Verfügung stand. Jody Scheckter saß im konventionellen Tyrrell 007. Damals war das eine übliche Praxis, um eine Neukonstruktion mit seinem Vorgänger zu vergleichen. Mit Erfolg, denn Depailler stellte den Neuen sofort auf den dritten Startplatz. Scheckter stand, eine Sekunde langsamer, gleich elf Startplätze weiter hinten.
Sind sechs Räder besser als vier?
Schon beim nächsten Rennen, das in Belgien stattfand, saßen daher beide Tyrrell-Piloten im neuen Rennwagen. Während Depailler wie beim Debüt im Rennen ausfiel, zog Scheckter als Vierter gleich die ersten WM-Punkte für die gewagte Konstruktion an Land. Und tatsächlich sah es im Sommer 1976 so aus, als ob Tyrrell mit dem P34 zu neuen Erfolgen eilen könnte. Denn nach dem Rennen in Belgien stand der Große Preis von Monaco auf dem Programm.
In den Straßen von Monte Carlo fuhren beide P34 aufs Podest, mussten den Sieg allerdings Niki Lauda im Ferrari überlassen. Noch, denn schon beim nächsten Versuch fuhr der sechsrädrige Rennwagen zum Doppelsieg. Jody Scheckter gewann den Großen Preis von Schweden. Teamkollege Patrick Depailler kam auf dem Flugplatz von Anderstorp als Zweiter ins Ziel. Spätestens jetzt war der P34 in aller Munde.
Denn der ungewöhnliche Rennwagen sorgte nicht nur dank seiner sechs Räder für Aufsehen, er überzeugte auch durch Leistung. Gleichwohl sah ausgerechtet Jody Scheckter im neuen Konzept keine Zukunft. In zeitgenössischen Interviews finden sich klare Aussagen, dass der Grand Prix-Sieger den Wagen für schwer fahrbar hielt. Kein Wunder, dass der Südafrikaner am Jahresende Tyrrell den Rücken kehrte und bei Wolf andockte.
Ohne Reifen nichts los!
Viele alte Fotos zeigen, dass die Piloten den ungewöhnlichen Rennwagen oft leicht driftend durch die Kurven zogen. Das ging stark auf die Reifen. Scheckter wusste wohl, dass der Erfolg des P34 vom Wohlwollen des Reifenherstellers Goodyear abhing. In der Firmenzentrale des amerikanische Reifenherstellers waren nicht alle Entscheidungsträger vom P34 begeistert. Denn es war nicht kostendeckend, für nur ein Team Spezialreifen herzustellen.
Tatsächlich blieb der Sieg in Schweden ein einmaliges Ereignis. Denn der P34 hatte seinen Zenit bereits überschritten. Goodyear lieferte zwar weiter Reifen, entwickelte diese jedoch nicht mehr weiter. So verlor der Rennwagen kontinuierlich an Boden. Daran änderte auch nichts, dass das Team für 1977 den P34 erheblich modifizierte. So zog neben einer neuen Front auch ein Sechsganggetriebe in den Rennwagen ein. Ronnie Peterson, 1977 neu bei Tyrrell, fiel gleich bei den ersten sechs Grand Prix aus. Am Jahresende kam der Schwede auf bescheidene sieben WM-Punkte. Patrick Depailler zog auch nur 20 WM-Punkte an Land. Zudem war Goodyear am Ende des Jahres nicht mehr bereit, weiter 10 Zoll große Rennreifen zu liefern. Der Reifenbauer fürchtete Schadenersatz-Ansprüche, wenn einer der kleinen Reifen der Belastung nicht standhalten sollte.
Der P34 bliebt einzigartig, aber nicht allein!
Ken Tyrrell und Derek Gardner beendeten das Experiment. Als Nachfolger des P34 entstand der Tyrrell 008, der wieder dem konventionellen Ansatz mit vier Rädern folgte. Interessant ist, dass etwa zeitgleich, als Tyrrell seinen sechsrädrigen Rennwagen einmottete, der Lotus 78 mit seinem Ground Effect bereits die nächste Rennsport-Revolution lostrat. Sie beeinflusst bis heute den Rennwagenbau. Trotzdem blieb Tyrrell nicht das einzige Team, das einen Rennwagen mit sechs Rädern konstruierte. Auch March, Williams und Ferrari bauten entsprechende Prototypen. March setzte 1976/1977 allerdings auf vier Hinterräder. Wobei auch hier die Aerodynamik den Ausschlag gab. Denn damals fuhr die Formel 1 an der Hinterachse mit mächtigen Walzen. Konstrukteur Robin Head probierte es stattdessen mit vier kleinen Rädern.
Dazu bekam der March 2-4-0 hinten Reifen, die eigentlich Vorderreifen waren. Das reduzierte die Breite des Rennwagens. Zudem verbesserten die kleineren Räder die Anströmung des Heckflügels. Doch die Konstruktion erforderte ein spezielles Getriebe. March war jedoch finanziell mal wieder klamm. Der Firma fehlte das Geld für die Getriebeentwicklung. Deshalb blieb es bei ein paar Tests. Ferrari experimentierte etwa zeitgleich mit einer Zwillingsbereifung an der Hinterachse. Doch auch hier blieb es bei einem Test. Drei Jahre später probierte sich Williams an der Idee von March. Doch der dreiachsige Williams war rund 100 Kilogramm schwerer als sein konventioneller Bruder. Gewicht bringt Rundenzeit, wissen Motorsportfreunde. Frank Williams und Patrick Head brachen das Projekt deshalb bald ab.
Trotzdem ist der Tyrrell P34 unvergessen!
So blieb es einzig Tyrrell vorbehalten, einen Rennwagen mit sechs Rädern tatsächlich im Rennen einzusetzen. Am Ende stehen 30 WM-Läufe und ein Einsatz beim Race of Champions 1977 in der Vita des ungewöhnlichen Rennwagens. Das Ergebnis aller Mühen waren ein Sieg, eine Pole Position und drei schnellste Rennrunden. Erfolgreicher war der P34 im historischen Motorsport. 2000 und 2008 gewann der P34 die FIA Historic Formula One Championship. Den Einsatz ermöglichte unter anderem Avon, wo extra für den restaurierten Tyrrell die passenden Reifen entstanden.
Bei seinen Einsätzen beeindruckt der ungewöhnliche Rennwagen offensichtlich bis heute die Zuschauer. So berichtete die Kindergärtnerin von Toms Sohn Max einmal von der großen Fantasie des Kindes. Sie erzählte, dass der damals Vierjährige gern mit Lego Autos baue. Dabei sei ein Auto mit sechs Rädern entstanden, für das Max sogar einen Namen hatte. Dabei wisse doch jedes Kind, dass Autos vier Räder haben, betonte sie. Nun denn, wir wissen es seit dem 2. Mai 1976 besser!
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