Auto-Erinnerungen

Wie der VW Golf Volkswagen rettete

Mitte der 1970er-Jahre nahm die Schieflage der Volkswagen AG bedenkliche Ausmaße an. Das Unternehmen stand vor radikalen Einschnitten. Möglich war sogar der Verkauf von Teilen des Unternehmens. Doch dann gelang dem Autobauer mit dem VW Golf der Befreiungsschlag.

Mit dem VW Golf GTI beschleunigte VW den Durchbruch seiner neuen Fahrzeuggeneration.
Mit dem VW Golf GTI beschleunigte VW den Durchbruch seiner neuen Fahrzeuggeneration.

Volkswagen und Technik war in den Anfangsjahren eine einfache Gleichung. Autos aus Wolfsburg standen auf einem Plattform- oder Zentralrohrrahmen. Im Heck saß ein luftgekühlter Boxermotor, der die Hinterräder antrieb. Mit diesem einfachen Muster entwickelten sich in den Jahren des Wiederaufbaus der Käfer und der Typ 2 zu Lokomotiven des Wirtschaftswunders. Als VW sein Programm 1961 mit einer größeren Limousine (Typ 3) ergänzte setzten die Techniker weiter auf die bewähren Eckpunkte.

Erst beim 1968 präsentierten Typ 4 gab es auch bei Volkswagen eine selbsttragende Karosserie und vier Türen. Selbst als Volkswagen den großen VW präsentierte, waren die Anleihen beim Käfer unverkennbar. Auch der Neue vertraute auf das bewährte Antriebskonzept, im Heck saß weiter ein luftgekühlter Boxermotor. Die Verkaufsbezeichnung 411 übersetzten Spötter schnell mit „4 Türen, 11 Jahre zu spät“!

Volkswagen baute sich am Käfer fast zu Tode!

Die Chefs in Wolfsburg vertrauten jahrelang einfach darauf, dass Autos aus Deutschland immer ausreichend viele Käufer in Übersee finden. Denn bis weit in die 1960er-Jahre feierte das Werk am Mittellandkanal Jahr für Jahr dank reichlich sprudelnder Devisen aus Nordamerika Umsatz- und Gewinnrekorde. Für Generaldirektor Heinrich Nordhoff, der VW fast 20 Jahre führte, bildeten der Käfer, die Kasse und der Konzern eine Einheit.

Die letzten Käfer, die in Wolfsburg entstehen.
Der letzte VW Käfer aus Wolfsburg wird gefeiert. Das überstrahlt die schlechte Stimmung. Denn VW schrieb in diesen Jahren tiefrote Zahlen. (Foto VW)

Doch Märkte entwickeln sich, die Bedürfnisse der Kunden wachsen im Laufe der Zeit. Volkswagen reagierte auf diese Veränderungen viel zu lange nur mit einer kontinuierlichen Pflege seines Urmodells. Die Wettbewerber setzten in den 1960er-Jahren dagegen längst auf neue Modelle. Gerade in den Fahrzeugklassen, die Volkswagen traditionell bediente, wurden Frontantrieb und wassergekühlte Motoren Standard. Zudem boten die neuen Modell der Wettbewerber mehr Platz, als die Autos von VW.

Doch noch wichtiger war, mit den neuen Modellen hängten die Herausforderer Volkswagen auch bei der Produktivität ab. Pro Mitarbeiter baute Volkswagen, statistisch gesehen, Ende der 1960er-Jahre nicht einmal zehn Autos pro Jahr. Bei den Konkurrenten baute jeder Mitarbeiter bereits 15 Auto pro Jahr. Damit fuhr Volkswagen praktisch mit Vollgas in die Krise, schrieb bald tiefrote Zahlen. Der Tiefpunkt war 1974 erreicht, als die Bilanz einen Verlust in Höhe von 807 Millionen DM auswies. Inzwischen lag die Auslastung der Werke nur noch bei 60 Prozent.

Der VW Golf veränderte 1974 alles!

Zum Glück lief die Rettungsmission bereits. Schon Mitte der 1960er-Jahre kaufte Volkswagen von Daimler-Benz die Auto Union GmbH. 1969 erwarb Volkswagen auch die NSU AG. Mit den Konzerntöchtern sicherte sich VW praktischerweise auch Zugang zu modernen Fahrwerken und wassergekühlten Reihenmotoren. Mit diesen Komponenten gelang die Modernisierung des Modellprogramms der Stammmarke. An die Stelle des Käfers und seiner Ableger trat eine Flotte agiler, leichter und sparsamer Fronttriebler.

VW Golf Alaska Feuerland
Der Alaska Feuerland Golf von Fritz B. Busch und Frank Müller-May (Foto: Volkswagen)

Zunächst debütierte 1973 der VW Passat. Der Passat war eine Variante des Audi 80 aus Ingolstadt. Das sorgte für überschaute Entwicklungskosten. Im Frühjahr 1974 folgte das Sportcoupé VW Scirocco. Beide Modelle waren die Vorboten einer neuen Zeit. Denn inzwischen ist die Krise in Wolfsburg längst nicht mehr zu übersehen. Seit Jahren sinken bei VW die Absatzzahlen. Selbst als sich der Markt nach der Ölkrise wieder etwas erholt, geht der Aufwind an VW vorbei. Der Autobauer verkauft Volkswagen so wenige Autos wie zuletzt 1967.

Der Golf springt aus dem Stand auf Platz eins!

Doch als Volkswagen im Sommer 1974 den VW Golf vorstellt, gelingt die Wende. Denn der VW Golf entwickelt sich innerhalb weniger Monate zum umsatzstärksten Modell des Konzerns. Wobei der Erfolg selbst die Konzernführung überraschte, wie der Spiegel im September 1975 festhielt. Doch der kompakte Golf war offenbar das richtige Auto zur richtigen Zeit. Die Kunden rissen den Händlern die Fahrzeuge praktisch aus der Hand.

Innenraum des VW Golf der ersten Generation
Innenraum des VW Golf der ersten Generation – so einfach sah 1974 der Innenraum eines Autos aus.

Ein VW-Händler antwortete damals auf die Frage, warum die Kunden den Golf L kaufen, weil der Golf LS nicht lieferbar sei. Das von Giorgio Giugiaro und seinem Designstudio Italdesign entwickelte Schrägheck des Golf stieg zum Standard einer ganzen Fahrzeugklasse auf. In der Lücke zwischen Kleinwagen und Mittelkasse setzte der Golf fortan den Trend. Wobei VW interessanterweise gar nicht der erste Hersteller war, der in dieser Fahrzeugklasse auf ein Schrägheck setzte.

Vom Golf zur Golf-Klasse!

Denn schon 1968 vertraute Renault bei Renault R6 auf ein Schrägheck. Auch British Leyland ließ bereits 1973 die Karosserie des Austin Allegro sowie seiner Geschwister Vanden Plas 1500/1750 und Innocenti Regent schräg auslaufen. Doch erst der Golf machte diese Karosserieform zum Erfolgsmodell. Autobauer von Ford über die Chrysler-Tochter Simca bis zu Fiat und Lancia folgten Mitte der 1970er-Jahre bald den Vorbild aus Wolfsburg. Nur Peugeot blieb beim 1977 präsentierten Peugeot 305 bewusst bei einem klassischen Stufenheck-Konzept.

Doch egal was die Kontrahenten auch probierten, aus dem Schatten des Golf trat niemand heraus. Das sorgte dafür, dass die Kompaktklasse bald als Golf-Klasse galt. Und Volkswagen fuhr dank des Golf mit Vollgas aus der Krise. Schon im August 1975 kehrte das Unternehmen in die schwarzen Zahlen zurück. 1976 lag der Gewinn bereits bei einer Milliarde. Es war eine Rettung aus höchster Not. VW-Chef Toni Schmücker betonte im April 1976 in einem Spiegel-Interview, dass das Unternehmen dank des Golf in letzter Minute die Kurve bekam.


Infos zum Titelbild dieses Beitrags:
Innenraum des VW Golf der ersten Generation – so einfach sah 1974 der Innenraum eines Autos aus.

Foto: Tom Schwede

AutoNatives.de ist auch bei Facebook. Wir freuen uns über ein Like.







Themen in diesem Artikel:

Als Kind der 1970er-Jahre hatte Tom das große Vergnügen, in einem ausgesprochen automobilen Umfeld aufzuwachsen. Das war der optimale Nährboden, um heute über Autos zu schreiben und regelmäßig am Mikrofon über Autos zu sprechen. Denn Tom Schwede moderiert seit 2010 bei großen Oldtimer- und Klassik-Veranstaltungen in Deutschland. So ist Tom unter anderem bei den Classic Days (früher Schloß Dyck, heute in Düsseldorf) oder dem 1.000 Kilometer-Rennen am Nürburgring zu hören. Wenn Sie also einen Moderator oder Streckensprecher für Ihre Oldtimer-Rallye oder Ihr Oldtimer-Treffen suchen, dann sind Sie bei Tom definitiv richtig!

Write A Comment