Die Begriffe „Kult“, „Legende“ oder „Mythos“ kommen heute oft inflationär zum Einsatz. Doch für die 1970 von Bertone auf dem Turiner Autosalon vorgestellte Studie Lancia Stratos Zero sind diese Begriffe angebracht. Denn die Vorstellung der Studie war der Startschuss für ein Auto, das sich seinen Status als rollende Legende schnell verdiente.
In den 1960er-Jahren legten unsere Autos die Rundlichkeit der Pontonform ab. Sicken und bauchige Wölbungen verschwanden. An ihre Stelle trat ein radikal neuer Stil. Modern waren jetzt präzise gezogene Linien und scharfe Kanten. Der Gipfel dieser Modewelle war die Keilform. Mit ihr endete für Designer die Nachkriegszeit. Praktisch alle Autobauer und Karosseriedesigner sprangen beim Übergang in die Wilden Siebziger auf diesen Zug auf und veränderte ihre Designsprache.
1970 war das Jahr des Keils
Den Anfang machte Giorgio Giugiaro schon 1966 mit seinem in großen Teilen keilförmigen Maserati Ghibli. Dann ging es Schlag auf Schlag. Bald waren Keile überall. 1969 präsentierte die GM-Tochter Holden in Australien den Holden Hurricane. Im März 1970 stellte Mercedes seinen C111-II in Genf vor. Ebenfalls in Genf zeigte Pininfarina den Ferrari 512 S Modulo. Design-Kritiker überhäuften besonders diese italienische Interpretation des Keils mit viel Lob und Anerkennung. Der Modulo gewann mehr als 20 Designpreise und -Auszeichnungen.
Mit Spannung blickte die Autowelt daher im Herbst 1970 zum Turiner Autosalon. Wie reagieren andere Designer auf die Vorlage von Pininfarina? Und tatsächlich, als der Autosalon am 28. Oktober 1970 seine Tore öffnet, präsentiert Giorgio Giugiaro mit seinem Studio Italdesign den VW-Porsche Tapiro. Ein solider Entwurf, dessen Gradlinigkeit auch heute noch serienreif wirkt. Doch dazu kommt es nie. Der Tapiro bleibt ein Einzelstück und gerät bald in Vergessenheit. Das Bessere ist der Feind des Gutes!
Bertone zeigt die Studie Lancia Stratos Zero
Denn schon wenige Minuten nach der Eröffnung des Autosalons von Turin war klar, dass hier eine andere Konzeptstudie alles überstrahlt. Giuseppe „Nuccio“ Bertone griff das Thema „Keil“ erstmals 1968 bei seinem Lamborghini Espada auf. Zwei Jahre später präsentiert der Altmeister eine Studie für die Ewigkeit. Denn Bertone zeigt den Lancia Stratos Zero. Wobei viele Beobachter die Verwendung von Lancia-Technik überrascht. Schließlich gilt Pininfarina als Hausdesigner des Autobauers.
Bertone weiß, Lancia benötigt für seine Rallye-Einsätze ein neues Sportgerät. Denn ihre Lancia Fulvia fährt der Alpine A110 zunehmend hinterher. Das schmerzt, weil der Rallye-Sport am Anfang eines Booms steht. Die Aufnahme der Safari Rallye in den Kalender der bisherigen Rallye-Europameisterschaft macht aus dieser die Internationale Rallye Meisterschaft für Marken. Es ist der erste Schritt auf dem Weg zu einer Weltmeisterschaft. Bertone will den Autosalon in Turin nutzen, um sich bei Lancia ins Gespräch zu bringen.
Der Designer geht ins Risiko, besorgt sich eine Lancia Fulvia und kleidet diese neu ein. Dabei entsteht ein magischer Keil, der jeden Betrachter sofort in den Bann zieht. Denn die Studie war mehr als nur ein Modegag. Bertone brachte ihr radikal-futuristisches Design im Windkanal in Form. Denn dem Designer war klar, dass sich die Gestaltung der Karosserie unmittelbar auf das Fahrverhalten auswirkt.
Lancia erliegt dem Werben und erteilt Bertone einen Auftrag!
Wenig Rücksicht nahm Bertone auf die Bedürfnisse der Insassen. Der Zugang zum Innenraum der Studie erfolgte über die aufklappbare Frontscheibe. Das war schwierig und führte im Inneren zu einem beengten Gefühl. Trotzdem zwängt sich der Designer nach der Messe ins Cockpit und besucht mit der Studie die Lancia-Fabrik in Turin. Dort fährt Bertone, so die Legende, begleitet von dem Jubel der Mitarbeiter unter dem geschlossenen Schlagbaum hindurch. Die Studie ist nur 84 Zentimeter hoch, die Story könnte wahr sein.
Die Gespräche mit dem Management der Fiat-Tochter, Italiens Nummer eins übernahm Lancia 1969 für einen symbolischen Preis, sind schließlich erfolgreich. Bertone bekommt den Auftrag, das neue Rallye-Fahrzeug von Lancia einzukleiden. Damit verbunden ist die Zusage, das neue Auto auch fertigen zu dürfen. Dieser Teil des Auftrags sichert dem Karosseriebau bei Bertone die Auslastung. Denn für die Zulassung in der Gruppe-4 der Spezial-GT-Fahrzeuge war seit Anfang 1970 der Bau von 500 Exemplaren in zwölf Monaten notwendig.
Die Projektleitung im Hause Bertone übernimmt Marcello Gandini. Kenner wissen, dass Gandini zuvor den wunderbaren BMW Garmisch einkleidete. Der Designer und sein Chef waren ein eingespieltes Team. Bertone skizzierte eine Idee grob, Gandini setze sie um und löste die Detailfragen. Das war übrigens schon bei der Studie Lancia Stratos Zero genauso so. Auch sie ist in weiten Teilen ein Werk von Marcello Gandini. Das übersehen heute Artikel über den Designer gern, weil sein später gestalteter Lamborghini Countach viele vorherige Aufgaben überstrahlt.
Was passierte mit der Studie? Wo ist der Lancia Stratos Zero heute?
Die Studie verblieb im Besitz der Firme Bertone. 1977 nahm Nuccio Bertone mit der Studie an der documenta 6 in Kassel teil. Später stand der Stratos Zero im firmeneigenen Museum. Zu Beginn des neuen Jahrtausends geriet das Traditionsunternehmen in finanzielle Schwierigkeiten. Der Niedergang der Carrossiers verschonte auch Bertone nicht. Die Autobauer waren in zwischen in der Lage, auch Kleinserien wirtschaftlich zu fertigen. Zudem veränderte sich die Technik des Karosseriebaus. Es ist heute vielfach nicht mehr möglich, ein Auto neu einzukleiden.
Beides zog auch Bertone den Boden unter den Füßen weg. Um wenigstens das Designstudio zu retten, trennte sich die Familie Bertone schließlich vom Tafelsilber. 2011 versteigerte das Auktionshaus RM Auctions – heute RM Sotheby’s – große Teile der Fahrzeugsammlung von Bertone. Der Zuschlag für den Lancia Stratos Zero 2011 fiel bei einem Gebot von 761.600 Euro. Der neue Besitzer zeigte den Stratos 2018 im Rahmen des Concorso d’Eleganza Villa d’Este, wo auch unsere Fotos entstanden.