Alfa Romeo in der Formel 1: Euroracing und der Turbo V8
Im Winter 1982/83 registrieren die Verantwortlichen von Alfa Romeo, dass das Werksteam in der Formel 1 den eigenen Ansprüchen konsequent hinterher fährt. Das kostet viel Geld und beschädigt den Ruf. Daher stellt sich Alfa Romeo in der Königsklasse neu auf. Die Werkeinsätze übernimmt ab sofort das zuvor in der Formel 3 erfolgreiche Team von Gianpaolo Pavanello.
In der ersten Hälfte der 1980er-Jahre ist klar, für Erfolg in der Formel 1 ist ein Turbo notwendig. Bei Alfa Romeo kümmert sich Carlo Chiti bereits seit Ende 1979 um die Entwicklung eines passenden Motors. Doch Chiti verzettelt sich mit seinen Projekten. Denn in der Werkstatt des Werksteam Autodelta entstehen auch der Rennwagen Alfa Romeo 179 sowie ein Tipo 1260 genannter V12-Motor. Der Motor debütierte noch bei Brabham. Doch das britische Team stieg bald entnervt auf den bewährten Cosworth DFV um. Damit liegen die Hoffnungen vollständig auf dem Werksteam. Doch als Autodelta weiter den Erfolg konsequent hinterherfährt, ziehen die Firmenchefs in Mailand Ende 1982 die Reißleine.
Die Werkseinsätze übernimmt ab 1983 Euroracing!
Denn inzwischen ist das Geld in Mailand knapp. Der Autobauer ist längst ein Sanierungsfall. Deshalb gilt es, die Kosten des Sportprogramms auf das Mindestmaß zu senken. So entschied Alfa Romeo, dass sich Carlo Chiti und Autodelta ab Anfang 1983 nur noch um den neuen Turbo-Motor kümmern. Mit den Einsätzen an der Rennstrecke, zuvor ebenfalls eine Aufgabe von Autodelta, betraute der Autobauer Gianpaolo Pavanello. Das von Pavanello geführte Rennteam Euroracing konnte zuvor von 1980 bis 1982 dreimal hintereinander die Formel-3-Europameisterschaft für Alfa Romeo gewinnen. Wobei 1982 ein in Teilen selbstentwickeltes Fahrzeug zum Einsatz kam. Das überzeugte die Verantwortlichen, ihr Formel-1-Projekt in die Hände von Euroracing zu legen.
Denn anders als Autodelta hatte Euroracing damit bewiesen, dass das Team erfolgreich Formel-Fahrzeuge entwickeln und einsetzen kann. Zudem operierte Gianpaolo Pavanello zum Festpreis, besorgte sich das fehlende Budget selbst von Sponsoren. Das war für Alfa Romeo günstiger als eine Vertragsstrafe an Bernie Ecclestone zu zahlen, wenn die Marke aus der Formel 1 aussteigt. Der Strategiewechsel der Verantwortlichen bei Alfa Romeo degradierte Carlo Chiti. Der Ingenieur fügte sich der Entscheidung. Das war für viele Zeitzeugen die größte Überraschung rund um die Entwicklungen des Rennbetriebs des Staatsunternehmens Alfa Romeo. Möglicherweise war sich Chiti sicher, dass sein neuer Motor das Blatt wenden wird.
Carlo Chiti baut einen 1,5-Liter-V8-Turbo
Denn obwohl es seinem Arbeitgeber Alfa Romeo zunehmend schwerfällt, das teure Abenteuer Formel 1 überhaupt zu finanzieren, geht Chiti volles Risiko. Der Konstrukteur bleibt sich treu und konstruiert einen ungewöhnlichen Motor. Als einziger Konstrukteur dieser Epoche setzt Chiti in der Formel 1 auf einen 1,5-Liter-V8 mit Turboaufladung. Denn zuvor gab es in der Formel 1 nur Turbo-Motoren mit sechs und vier Zylindern. Turbo-Pionier Renault trat ab 1977 mit einem V6 an, der von seinem erfolgreichen Formel 2-Motor abstammte. Auch Ferrari setzte bei seinem Turbo ab 1981 auf diese Bauart. Und BMW sicherte sich 1983 den ersten Turbo-Titel mit einem von einem Serienblock abstammenden Reihenvierzylinder.
Übersicht der Turbo-Motoren in der Formel 1 (1977 bis 1988):
- Renault 90° V6 (Typen EF1, EF4, EF15), Einsatzjahre 1977 bis 1986
- Ferrari 120° V6 (Tipo 021, 031 und 032), 1981 bis 1986
- BMW Reihenvierzylinder M12/13, 1981 bis 1987 bzw. 1988 unter dem Namen Megatron
- Hart Reihenvierzylinder (415T), 1981 bis 1986
- Alfa Romeo 90° V8 (890T), 1982 (nur ein Training) bis 1987 bzw. 1988 als Osella
- Honda 80° V6 (RA163E, Honda RA166E, RA167E) 1983 bis 1988
- Porsche 80° V6 (TAG TTE PO1), 1983 bis 1986
- Motori Moderni 90° V6 (Tipo 615-90), 1985 bis 1987
- Zakspeed Reihenvierzylinder (1500/4), 1985 bis 1988
- Ford 120° V6 (Cosworth GBA), 1986 und 1987
- Ferrari 90° V6 (Tipo 033), 1987 und 1988
- Alfa Romeo Reihenvierzylinder (415T), 1987 nur Testfahrten bei Ligier
Später vertrauten auch Porsche beim TAG-V6, Honda, Cosworth für Ford sowie – Carlo Chiti mit seiner Neugründung – Motori Moderni auf sechs Zylinder. Zeitgleich bauten Hart und Zakspeed nach dem Vorbild von BMW eigene Reihenvierzylinder. Wobei sowohl Hart als auch Zakspeed als Vorbild für ihre Motoren den aus der Formel 2 und den Tourenwagen bekannten Cosworth BDA von Ford nutzten. Brian Hart goß für seine Motoren jedoch eigene Motorblöcke, die ohne abnehmbaren Zylinderkopf auskamen. Dadurch erfolgte der Einbau der Ventile wie bereits 1910 bei Bugatti durch das Innere der Zylinder. Es ist interessant, wie viele unterschiedliche Konzepte es in den 1980er-Jahren in der Formel 1 gab.
In diesem Umfeld stellte Carlo Chiti einen V8-Motor vor!
Die Auflistung der von 1977 bis 1988 eingesetzten Turbo-Motoren zeigt, wie ungewöhnlich die Entscheidung für einen Achtzylinder war. Trotzdem war sie nicht ohne Vorbild. Denn in den Anfangsjahren der Formel 1 dominierte Alfa Romeo mit einem durch einen Kompressor beatmeten Reihenachtzylinder mit 1,5 Liter Hubraum die Szene. B.R.M. versuchte sich zeitgleich an einem aufgeladenen 16-Zylinder-V-Motor. Theoretisch verspricht jeder zusätzliche Zylinder eine Mehrleistung. Der von Carlo Chiti konstruierte Alfa Romeo 890T blieb diesen Beweis jedoch schuldig, galt geichzeitig als schwer und trinkfest. Damit blieb sich der Konstrukteur treu. Denn ähnlich beurteilten Beobachter schon Chitis V12 (Typ 115-12) mit einem Bankwinkel von 180 Grad, den Brabham ab 1977 einsetzte.
Euroracing sorgt tatsächlich für einen Aufschwung
Bereits 1982 testet Autodelta den neuen Turbo im Training zum Großen Preis von Italien. Doch im Rennen vertraut das Team weiter auf seine bewährten Saugmotoren. Im Winter übernimmt Euroracing das gesamte Material des Werksteam und tritt fortan auf eigene Rechnung unter dem Namen Alfa Romeo in der Formel 1 an. Dabei feiert Anfang 1983 auch der neue Turbo sein Renndebüt. Andrea de Cesaris bleibt auch unter den neuen Vorzeichen an Bord. Das zweite Cockpit übernimmt Mauro Baldi. Für Baldi ist es eine Rückkehr zu Euroracing. Denn der Italiener sicherte sich im Team von Gianpaolo Pavanello 1981 den Titel in der Formel-3-Europameisterschaft. Anschließend verdiente sich der Italiener in der Zwischenzeit bei Arrows erste Sporen als F1-Pilot.
Beide Piloten sitzen im neuen Alfa Romeo 183T, der für den neuen Turbo-Motor ursprünglich noch bei Autodelta entstand. Der neue Rennwagen wechselt zusammen mit seinem Designer Gérard Ducarouge zu Euroracing. Und scheinbar beflügelt die Neuorganisation der Formel-1-Einsätze die Marke Alfa Romeo in der Königsklasse tatsächlich. Denn am Ende der Saison 1983 blickt das Team auf 18 WM-Punkte zurück. Damit fährt Alfa Romeo in der Wertung der Konstrukteure auf den sechsten Platz. Vermutlich war 1983 das einzige Jahr, wo das Formel 1-Programm von Alfa Romeo kostendeckend arbeitete. Denn das Ergebnis in der Konstrukteurs-WM war auch damals schon die Grundlage für die Ausschüttungen aus dem Preisgeld-Topf der Königsklasse.
Kein Licht ohne Schatten!
Denn schon beim Saisonauftakt gibt es den ersten Eklat. Andrea de Cesaris fährt im Training an der Waage der technischen Kommissare vorbei und wird deshalb sofort disqualifiziert. Beim Großen Preis von Frankreich ist der Alfa Romeo 183T zu leicht. Diesmal streichen die Sportkommissare de Cesaris nur die Zeiten aus der ersten Trainingssitzung. Nach dem Rennen feuert Euroracing auf Druck von Alfa Romeo Designer Gérard Ducarouge. Der Franzose findet bei Lotus sofort eine neue Anstellung. Beim Rennen in Monaco holt Mauro Baldi als Sechster erstmals einen Punkt für das Team. Später übertrumpft Andrea de Cesaris diese Leistung mit zwei Podestplätzen in Hockenheim und Kyalami. Beide Rennen schließt der Italiener als Zweiter ab.
Dazu sichert de Cesaris dem Team auch noch einem vierten Platz beim Großen Preis von Europa in Brands Hatch. Auch Baldi kann in den Niederlanden noch einen fünften Platz an Land ziehen. Kein Zweifel, 1983 war der Alfa Romeo 183T mit dem von Carlo Chiti konstruierten Turbo-Motor ein schnelles Auto. Doch immer wieder verhindert die Unzuverlässigkeit des Boliden den Gewinn weiterer Punkte. In Belgien fällt Andrea de Cesaris in Führung liegend aus. Insgesamt sehen beide Piloten nur elfmal die Zielflagge. Dem stehen 18 Ausfälle gegenüber. Zudem ist der V8-Turbo durstig. Beim Rennen in Hockenheim flossen gut 300 Liter durch die Einspritzdüsen des Motors im Alfa Romeo von Andrea de Cesaris.
Ab 1984 geht es auch mit Euroracing bergab
Nach den Achtungserfolgen im Vorjahr wird der italienische Strickwarenhersteller Bennetton Hauptsponsor des Teams. Zudem besetzt das Team beide Cockpits neu. Team-Leader wird Grand-Prix-Sieger Riccardo Patrese. Das zweite Cockpit bekommt mit Eddie Cheever der WM-Siebte des Vorjahrs. Doch schon zu Saisonbeginn gerät das Projekt in Verzug. Der von Euroracing entwickelte Alfa Romeo 184T wird zu spät fertig. Das reduziert das Testprogramm vor der Saison auf einen Rollout auf der Alfa Romeo Teststrecke von Balocco. Zudem bleibt der V8-Turbo weiter die Achillesferse des Teams. Denn Carlo Chiti bekommt den Motor weder zuverlässig noch sparsam. Das ist auch deshalb ein Problem, da die FISA Anfang 1984 den Kraftstoff auf 220 Liter pro Grand Prix limitiert.
Regelmäßig rollen die Piloten entweder mit Motorschäden oder mit leerem Tank aus. In Monaco scheitert Eddie Cheever sogar an der Qualifikationshürde. Wobei damals nur 20 Auto das Rennen in den engen Straßen den Fürstentums in Angriff nehmen dürfen. Einziger Lichtblick des Jahres ist der dritte Platz, den Riccardo Patrese beim Heimrennen in Monza einfährt. Die Schuld für die Ausfälle weisen sich Autodelta und Euroracing inzwischen gegenseitig zu. Wobei tatsächlich beide ihren Teil zu den Problemen beitragen. Denn Euroracing Team-Chef Pavanello trifft mehrfach Entscheidungen, die dem Rat der Experten von Autodelta widersprechen. Kein Wunder, dass die Stimmung zunehmend schlechter wird.
1985 wird zum Desaster für Alfa Romeo
Alfa Romeo reagiert und verpflichtet den ehemaligen Lancia-Ingenieur Gianni Tonti als Technischen Direktor, der das Projekt retten soll. Das mißfällt Carlo Chiti, der seinen Unmut in einem Presseinterview freien Lauf lässt. Im Oktober 1984 stellt Alfa Romeo seinem langjährigen Mitarbeiter den Stuhl vor die Tür. Chiti gründet sofort gemeinsam mit Giancarlo Minardi und Piero Mancini den unabhängigen Motorenbauer Motori Moderni. Im Mai 1985 steht Pierluigi Martini mit einem Minardi, den ein von Chiti konstruierter V6-Turbo antreibt, beim Grand Prix in Imola am Start. Unabhängig davon stellt Euroracing für die Saison 1985 mit dem Alfa Romeo 185T einen ganz neuen Rennwagen auf die Räder.
Die Piloten Patrese und Cheever beklagen von Anfang an das Fahrverhalten des von John Gentry entwickelten Rennwagens. Jahre später wird Riccardo Patrese den 185T als das schlechteste Formel 1-Auto bezeichnen, das er jemals gefahren sei. Im Sommer hat Euroracing ein Einsehen und schickt den Rennwagen vorzeitig in Rente. Es sagt viel über die Zustände im Team aus, dass der Nachfolger des gescheiterten 185T dessen Vorgänger ist. Ab dem neunten Saisonrennen sitzen beide Piloten wieder im Alfa Romeo 184T. Doch auch dieser Schritt bringt nicht die Wende. Denn in der zweiten Saisonhälfte sehen beide Piloten nur einmal die Zielflagge. Benetton Team Alfa Romeo schließt die Saison mit null Punkten ab. Der Sponsor kündigt den Vertrag und kauft Toleman.
Alfa Romeo lässt den Vertrag mit Euroracing auslaufen!
Dem Autobauer Alfa Romeo steht inzwischen das Wasser bis zum Hals. Das teure Formel-1-Projekt paßt endgültig nicht mehr zu den Verlusten, die das Staatsunternehmen kontinuierlich anhäuft. Alfa Romeo zieht sich offiziell aus der Königsklasse zurück. Großzügig überlässt der Autobauer die Rennwagen und den Formel 1-Startplatz dem bisherigen Einsatzteam Euroracing. Gianpaolo Pavanello findet jedoch weder Sponsoren noch einen Motorenpartner, um 1986 ohne Alfa Romeo in der Formel 1 anzutreten. Erst 1988 kehrt Pavanello als Partner von Walter Brun mit dem nun EuroBrun genannten Team in die Königsklasse zurück. Und trifft dabei auf den 890T von Alfa Romeo, den Osella immer noch einsetzt.